Die Multiple Sklerose (MS) zählt zu den häufigsten chronisch-entzündlichen Erkrankungen des Zentralnervensystems. Vermutlich greifen körpereigene Abwehrzellen die als „Isolierung“ dienenden Myelinscheiden der Nervenzellfortsätze an und verursachen dadurch Symptome wie Sehstörungen, Lähmungserscheinungen und schnelle Ermüdbarkeit. Die Krankheit ist nicht heilbar, kann aber durch verschiedene therapeutische Ansätze gelindert werden. „Die Ursache der Erkrankung ist nach wie vor unklar“, sagt Prof. Dr. Gunther Hartmann, Leiter des Instituts für Klinische Chemie und Klinische Pharmakologie des Universitätsklinikums Bonn.
Forscher untersuchten Mäuse mit Multipler Sklerose
Die Bonner Wissenschaftler haben nun zusammen mit ihren Kollegen aus Freiburg einen interessanten Ansatzpunkt gefunden, wie sich die mit MS verbundenen Entzündungsreaktionen beeinflussen lassen. Sie untersuchten modellhaft an Mäusen, die eine Multiple Sklerose entwickelten, den zum angeborenen Immunsystem gehörenden Rezeptor „RIG-I“. Solche Rezeptoren funktionieren wie Antennen. Docken bestimmte mit Gefahren verbundene Stoffe an diese Antennen, wird eine Signalkaskade mit dem Ziel in Gang gesetzt, etwa ein Virus als Angreifer abzutöten. „Wir haben in Bonn den exakten Bindungspartner für RIG-I identifiziert und ein spezielles chemisches Verfahren entwickelt, mit denen diese sogenannte Triphosphat-RNA-Oligonukleotide synthetisch passgenau für RIG-I hergestellt werden können, und daher sehr spezifisch an die biologische »Antenne« RIG-I binden“, berichtet Prof. Hartmann. Es handelt sich dabei um kurzkettige Nukleinsäuren, Substanzen wie sie etwa auch in der Erbsubstanz DNA vorkommen.
Die bei MS übliche Entzündungsreaktion (Inflammation) wird jedoch nicht durch einen bestimmten Krankheitserreger ausgelöst, sondern durch andere Signale, die offenbar mit dem RIG-I-Rezeptor in einem funktionellem Zusammenhang stehen. „Wird die Funktion von RIG-I genetisch ausgeschaltet, dann ist die Entzündungsreaktion im Gehirn der MS kranken Tiere deutlich verstärkt“, berichtet Professor Hartmann. Umgekehrt nehmen Nervenzellfortsätze schädigende Entzündungen ab, wenn der Rezeptor durch das Andocken dieser speziellen RNA-Oligonukleotide aktiviert wird. „Der Rezeptor ist also eine Art Steuerung im angeborenen Immunsystem, der Entzündungsreaktionen in eine günstige Richtung lenken kann“, erläutert Prof. Hartmann. „Unsere Oligonukleotide knipsen diesen Schalter an.“ Sowohl die Steigerung beispielsweise antiviraler oder antitumoraler Immunantworten durch diesen Rezeptor, als auch die Hemmung von unspezifischen Entzündungsreaktionen wie die bei der MS, haben die Forscher im Mausmodell nachgewiesen.
Großes Potenzial für neue therapeutische Ansätze
Dadurch eröffnet sich ein neuer therapeutischer Ansatz für MS-Patienten. „Mit der nun anstehenden klinischen Entwicklung dieser Triphosphat-RNA-Oligonukleotide können wir möglicherweise die schädigenden Entzündungen im Gehirn auch bei Patienten mit MS unterdrücken“, sagt der Bonner Wissenschaftler, der eng mit der Klinik für Neurologie am Universitsklinikum Bonn zusammenarbeitet. „Außerdem wird durch diese Entdeckung unser grundsätzliches Verständnis von der Funktion des angeborenen Immunsystems im zentralen Nervensystem erweitert.“ An der Studie sind neben Freiburg und Bonn Wissenschaftler aus München, Mainz, Braunschweig, Hannover, Münster und Japan beteiligt. Die klinische Entwicklung dieses neuen Ansatzes wird bereits von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Klinischen Forschergruppe "Angeborene Immunität bei Chronischer Neurodegeneration" unter Leitung von Prof. Dr. Michael Heneka gefördert.
Eine besondere Spezialität der Bonner Wissenschaftler ist die Entwicklung künstlicher Oligonukleotide, die in der aktuellen Studie im angeborenen Immunsystem den RIG-I-Schalter und andere Immunrezeptoren anknipsen. Diese Arbeiten sind auch eingebunden in den Antrag für das Exzellenzcluster „ImmunoSensation“ im Rahmen der Exzellenz-Initiative, mit dem das Verständnis immunologischer Vorgänge grundlegend erweitert werden soll. Daran sind neben der Universität Bonn auch das Max-Planck-assoziierte Institut Caesar und das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Bonn beteiligt. Das Vorhaben hat bereits die erste Antragshürde genommen, eine endgültige Entscheidung wird für Mitte nächsten Jahres erwartet.
Publikation:Cytosolic RIG-I-like helicases act as negative regulators of sterile inflammation in the CNS, Nature Neuroscience, doi:10.1038/nn.2964
Podcastzum Thema: http://www.uni-bonn.tv/podcasts/20111130_ST_Hartmann_V2.mp4/view
Kontakt:Prof. Dr. med. Gunther Hartmann
Institut für Klinische Chemie und Klinische Pharmakologie
Universitätsklinikum Bonn
Tel. 0228/28716080
gunther.hartmann@ukb.uni-bonn.de