24. Februar 2012

Böse Hexe – gute Hexe Böse Hexe – gute Hexe

Fantasy-Gestalten kommen in deutschen Kinderbüchern oft erzieherisch daher. In England ist Böses nicht tabu

In England dürfen Hexen in Kinder- und Jugendbüchern ihre Bosheit voll ausleben. Deutsche Autoren sind da traditionell viel zurückhaltender: Sie neigen eher zu einer pädagogisierenden Fantasy-Literatur. Zu diesem Ergebnis kommt die Anglistin Dr. Tanja Lindauer, die in ihrer Dissertation an der Universität Bonn die unterschiedlichen Herangehensweisen untersuchte.

Umringt von Kinder- und Jugendbüchern:
Umringt von Kinder- und Jugendbüchern: - Dr. Tanja Lindauer verglich in ihrer Dissertation an der Universität Bonn die Hexenliteratur in England und Deutschland. © Josef Lindauer/Uni Bonn
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Der englische Schriftsteller Roald Dahl nimmt in seinem 1983 erschienenen Kinderbuch „The Witches“ mit drastischen Schilderungen kein Blatt vor dem Mund. Seine Hexen sind ganz anders als im Märchen: Sie haben keine Haare und Krallen statt Fingernägel, ihre Spucke ist blau. „Diese Hexen hassen Kinder und wollen sie töten“, berichtet Dr. Tanja Lindauer, die an der Universität Bonn in Anglistik ihre Dissertation geschrieben hat. „Das wäre in Deutschland undenkbar: Die Kinder- und Jugendbuchliteratur zu Hexen ist viel harmloser und auch pädagogisierender.“

In Deutschland vollbringen Hexen gute Taten

Otfried Preußlers „Die kleine Hexe“ ist zum Beispiel alles andere als eine „böse“ Figur – ganz im Gegenteil: Weil sie zu viele gute Taten vollbringt, wird sie vom Hexenrat bestraft. Sie soll das Holz für das Feuer in der Walpurgisnacht zusammentragen. Mit einem klugen Schachzug gelingt es ihr aber, die Zauberkräfte der großen Hexen zu bannen. „Hier siegt die gute Hexerei über die böse“, stellt Lindauer fest.

„Aufgrund der Pädagogisierungsdebatten wurde in Deutschland das Böse weitgehend aus der Kinder- und Jugendbuchliteratur verbannt“, berichtet die Anglistin. In englischen Hexenbüchern für Kinder und Jugendliche geht es dagegen vorrangig darum, fantastische Geschichten zu erzählen. „Mythen spielen in England auch heute noch eine große Rolle, deshalb gibt es viele Kinder- und Jugendbücher zu Hexen, Trollen, Zauberern und Feen“, sagt Lindauer. Es sei deshalb wünschenswert, auch in Deutschland Hexenbücher für Kinder und Jugendliche nicht nur unter pädagogischen Gesichtspunkten zu untersuchen.

Hexenverfolgung als ein Grund für die Zurückhaltung

Über die Gründe, warum in England viel unbefangener mit Hexen umgegangen wird als in Deutschland, lässt sich nur spekulieren. „Die Hexenverfolgung in der frühen Neuzeit forderte in Deutschland deutlich mehr Opfer als in England“, sagt die Anglistin. „Diese unterschiedlichen Erfahrungen sind offenbar ein Grund, warum auch heute noch der Umgang mit Hexenthemen in beiden Ländern sehr unterschiedlich ist.“ Darüber hinaus habe sich die Hexenliteratur in den Ländern sehr unterschiedlich entwickelt.

Einseitiger Zugang in der deutschen Literaturkritik

„In ihrer Dissertation bemüht sich Frau Lindauer um eine neue Definition der Fantasy-Literatur für Kinder und Jugendliche“, sagt der Anglist Prof. Dr. Uwe Baumann, Doktorvater der Arbeit. Eine solche Abgrenzung sei zuvor nur unvollständig geschehen. Der in der deutschen Kritik primär entwicklungspsychologische und didaktische Zugang zu Hexenbüchern für Kinder und Jugendliche sei zu einseitig. „Hier wäre mehr Freiheit – wie in England – durchaus wünschenswert“, so Prof. Baumann weiter.

Die Anglistin, geboren 1979 in Bergisch Gladbach, war von Kindesbeinen an von Sprachen und Büchern begeistert. Nach dem Studium der Komparatistik, Anglistik und Romanistik an der Universität Bonn promovierte sie in der englischen Literatur- und Kulturwissenschaft. Für ihre jetzt veröffentlichte Dissertation analysierte sie insgesamt 69 Kinder- und Jugendbücher über Hexen, davon 14 in Deutsch. „In England gibt es etwa fünf Mal mehr Kinder- und Jugendbücher über Hexen als in Deutschland“, berichtet Lindauer. „Allein die schiere Menge zeigt die unterschiedliche Bedeutung, dem dieser Literaturzweig beigemessen wird.“ Die englischen Werke sind auch hierzulande in den Regalen der Kinderzimmer zu finden, da viele ins Deutsche übersetzt wurden.

Seit einem Jahr lebt die Anglistin in Berlin und arbeitet dort als Journalistin und Übersetzerin. „Mein Dissertationsthema lässt mich immer noch nicht ganz los“, sagt sie. Für Zeitungen und Magazine schreibt sie häufig auch über Kinder- und Jugendbuchliteratur.

Die 424-seitige Dissertation „But I thought all witches were wicked – Hexen und Zauberer in der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur in England und Deutschland“ ist nun für 34,90 Euro im Tectum-Verlag Marburg erschienen.

Kontakt:

Dr. Tanja Lindauer
Tel. 030/53793029
tanjalindauer@talibo.de
www.talibo.de

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