Was wäre J.R.R. Tolkiens monumentales Werk „Der Herr der Ringe“ und sein Vorläufer „Der Hobbit“ ohne die isländischen Sagas aus dem 13. und 14. Jahrhundert? Wahrscheinlich schlicht undenkbar. Ähnliches gilt wohl für die überaus populäre und weltweit erfolgreiche US-amerikanische Fantasy-Fernsehserie „Game of Thrones“. Auch die Macher dieser Serie würden sich wie so viele Fantasy-Autoren vor ihnen bei den Sagas bedienen, erklärt Prof. Dr. Rudolf Simek, Professor und Lehrstuhlinhaber für Ältere Germanistik mit Einschluss des Nordischen an der Universität Bonn. Durch die immer wiederkehrenden Motive und Stoffe wie Mord und Totschlag, Raubzüge und Zweikämpfe, Rache und Liebe hätten die Sagas einerseits unser heutiges Bild von den Wikingern geprägt. Andererseits fänden sich hier bereits die Figuren, die längst zum Standard-Personal der Fantasy-Literatur gehören: Drachen, Werwölfe, Untote, Berserker, Trolle, Zwerge, böse zauberkundige Stiefmütter und in Trollgestalt verzauberte Prinzessinnen.
Die Bedeutung der Sagas für die Weltliteratur steht für Simek und sein Team außer Frage. Was aber verstehen die Skandinavisten genau unter einer Saga? Wichtig ist den Herausgebern die deutliche Abgrenzung zur Gattung „Sagen“. Bei den Sagen handle es sich um mündlich überlieferte Volksliteratur. Die Sagas aus der Vorzeit könne man hingegen besser mit historischen Romanen vergleichen. Sie wurden von verschiedenen mutmaßlich sehr gelehrten Autoren verfasst, denen viel daran lag, unterhaltsame Geschichten über die isländische Vorzeit zu schreiben. Die wichtigsten isländischen Familien ließen sich und ihren Vorfahren durch die Sagas gewissermaßen ein literarisches Denkmal setzen. Es sind fiktionale Erzählungen mit einem historischen Kern, erklärt Simek. Eines der vielleicht bekanntesten Beispiele dafür, wie sehr diese Sagas spätere Adaptionen beeinflusst haben, dürfte die „Saga von den Völsungen“ sein. Sie beruht laut Simek zu einem großen Teil auf den Heldenliedern der Edda und erzählt von einem gewissen Sigrud Drachentöter und dessen Familie.
Richard Wagner hat diesen Stoff im „Ring des Nibelungen“ verarbeitet. Seine Hauptquelle soll dabei die erste deutsche Übersetzung der „Saga von den Völsungen“ gewesen sein. Stichwort „Übersetzung“: „Es ging uns darum, eine neue moderne und vor allem gut lesbare Übersetzung der Sagas zu bieten, die jeglichen heroischen Schmalz aus der Nazi-Zeit vermeidet“, erklärt Simek. Dabei wurde immer wieder um einzelne Worte gerungen und stundenlang diskutiert. Eine zeitgemäße Übersetzung zu erstellen, sei eben echte Knochenarbeit, sagt Simek. Die Publikation richte sich nicht in erster Linie an seine Fachkollegen, sondern viel mehr an ein junges Publikum, das am Mittelalter und an Fantasy-Literatur interessiert sei. Dass der berühmte britische Fantasy-Autor Neil Gaiman bereits auf die Bonner Publikation hingewiesen habe, freut Simek sehr.
Übersichtskarte samt Stammbaum der Helden
Seinen Anfang nahm das Projekt in einem Seminar mit Master-Studierenden. Simek stellte ihnen die Aufgabe, altnordische Sagas ins Deutsche zu übersetzten, die zum Teil gar nicht übersetzt waren oder nur in englischer Übersetzung vorlagen. Die Ergebnisse waren so gut, dass bald die Idee aufkam, die Übersetzungen zu publizieren. Herausgekommen sind 27 Sagas, verteilt auf drei Bände: Heldensagas (Bd 1), Wikingersagas (Bd 2) und Trollsagas (Bd 3). Während Band 1 bereits erhältlich ist, werden die Bände 2 und 3 im Oktober erscheinen. Für Band 3 haben sich die Bonner Skandinavisten zudem etwas Besonderes einfallen lassen: Es wird eine große Übersichtskarte und Stammbaum der Helden zum Herausnehmen geben. Die Arbeit an diesem Poster hat im Wesentlichen Mitherausgeberin Valerie Broustin geleistet. Die Masterstudentin der Skandinavistik hat auch einige Übersetzungen beigesteuert, befasst sich aber vor allem mit der Genealogie und Stammbäumen der Familien, von denen die Sagas handeln, sowie mit dem Register für alle drei Bände.
„Diese Geschichten faszinieren mich“, sagt Broustin. Das Erstellen der Stammbäume und des Registers gleiche jedoch mehr einer detektivischen Arbeit als einer philologischen. Kritischer Umgang mit den Quellen verbinde sich mit akribischer Recherche. „Man muss geradezu investigativ vorgehen. Es gibt immer wieder neue Querverbindungen zu entdecken“, erklärt Broustin. „Wir hoffen, dass das Register und die Stammbäume den Lesern eine echte Hilfe und Orientierung sind“, resümiert sie. Noch zur Uni-Zeit an einer Buch-Publikation mitarbeiten zu können, sieht sie als eine sehr gute Möglichkeit, ihre Kompetenzen zu erweitern. Gerade in den letzten Wochen vor der Veröffentlichung sei es noch zu kurzfristigen Änderungswünschen gekommen. Nun lerne man sozusagen in der Praxis, darauf flexibel und schnell zu reagieren.
Publikation: Rudolf Simek, Jonas Zeit-Altpeter und Valerie Broustin (Hrsg.): Sagas aus der Vorzeit – Bd 1: Heldensagas - Von Wikingern, Berserkern, Untoten und Trollen, Stuttgart Kröner Verlag, 320 S., 20 Euro
Kontakt:
Prof. Dr. Rudolf Simek
Universität Bonn
Ältere Germanistik mit Einschluss des Nordischen
Tel. 0228/739010
E-Mail: simek@uni-bonn.de