19. Juni 2020

Bilder und Angst – über Politik, Wissenschaft und Kommunikation in Zeiten von Corona Bilder und Angst – über Politik, Wissenschaft und Kommunikation in Zeiten von Corona

Rationalität oder Emotionen? - Was dominiert unser Handeln in der Coronavirus-Pandemie? Darüber hat der Germanist und Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Johannes F. Lehmann im Rahmen der Serie "Lebenszeichen" der Universität Bonn einen Beitrag verfasst.

Bilder und Angst – über Politik, Wissenschaft und Kommunikation in Zeiten von Corona
Bilder und Angst – über Politik, Wissenschaft und Kommunikation in Zeiten von Corona - Ein Beitrag von Prof. Dr. Johannes F. Lehmann im Rahmen der Serie "Lebenszeichen" © Ein Beitrag von Prof. Dr. Johannes F. Lehmann im Rahmen der Serie "Lebenszeichen"
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Er brauche nur aus dem Fenster zu blicken, um in „herumlaufenden Kindern“ die „Symbole der sich immer verjüngenden Welt zu sehen“, behauptete Goethe in den Gesprächen mit Eckermann. In den Symbolen, so wollte es die Goethische Symboltheorie, sollte die Bedeutung selbst ohne Zeichenvermittlung sichtbar sein. Das kann man mit Fug und Recht bestreiten, denn natürlich sind auch hier Bild und Bedeutung nicht identisch, sondern das Produkt einer kulturell vermittelten Beziehung von Zeichen und Referent. Das erkennt man auch daran, dass heute – in Zeiten der Pandemie – Kinder ganz offenbar nicht mehr die sich immer verjüngende Welt und die lebendige Zukunft der Gesellschaft bedeuten, sondern im Gegenteil das Prinzip der kontaktintensiven und unkontrollierbaren Viralität und die Bedrohung einer immer älter werdenden Welt durch das unkontrollierbare, tödliche Leben.

Die Evidenz solcher unmittelbar scheinender Bilddeutungen ist dabei nicht weniger mächtig als zu Zeiten Goethes – und sie steht in eklatantem Widerspruch zur Rede von der Aufwertung, die die Wissenschaft und ihre Rationalität gerade jetzt erfahre. Endlich, so meint man, ist es ‚die Wissenschaft‘, die mit ihrer Expertise und ihren wissenschaftlich erhobenen Daten die Entscheidungen der Politik bestimmt – Verschwörungstheoretiker und Fake-News-Verbreiter stehen endlich und eindeutig auf verlorenem Posten. Abgesehen von der Problematik, dass die Vorstellung einer Regierung von Experten, von Philosophen-Königen der Virologie sozusagen, zu unserer demokratischen Verfassung in einem offensichtlichen Widerspruch steht, kann und muss man die Diagnose der Wissenschaftskonformität der Politik und auch der Gesellschaft allerdings grundsätzlich in Zweifel ziehen.

Macht der Bilder

Was uns angesichts von Corona, wie immer in Zeiten politischer Unsicherheit und bedrohlicher Weltlagen, beherrscht, sind Emotionen und Bilder, Denkgewohnheiten und Angst. Es regieren Sicherheitsbedürfnis und Unsicherheitsgefühle und die ihnen korrespondierenden unkontrollierbaren Kontrollreflexe. Nicht die Statistiken exponentieller Fallzahlensteigerung, nicht Verdopplungs-, Reproduktionszahlen oder Berechnungen von Intensivbetten pro Einwohnerzahl hat die Bevölkerung emotional bewegt und die Politiker zum Handeln motiviert, sondern die Bilder aus Italien (und später aus New York). Während wissenschaftliche Studien und ihre Daten und Kurven immer auch angezweifelt werden können, ist gegen die Macht der Bilder und die von ihnen ausgelösten Emotionen kein Mittel. Die Bilder von Särgen mitten im Stadtzentrum von Bergamo trafen ins Herz einer urbanisierten Moderne, die seit ihren Anfängen um 1800 mit ihren Projekten der Lebensverlängerung, der sie begleitenden kollektiven Angst vor dem Lebendig-begraben-werden und der Verlegung der Friedhöfe an die Stadtränder den Tod aus den Städten gerade verbannt hatte. In einem emotional unakzeptablen Ausmaß wurde in diesen Bildern der Kontrollverlust über die sonst gelingende Ausgrenzung des Todes aus der Gesellschaft in Krankenhäuser, Altersheime und Hospize sichtbar. Während an der Übertragbarkeit von wissenschaftlichen Studien, die etwa Kindern eine geringe Infektiosität bescheinigen, sofort gezweifelt wird, so bringen diese Bilder alle Zweifel zum Schweigen. Auch hier hätte man ja fragen müssen, inwiefern die Zustände aus Italien überhaupt auf Deutschland oder andere Länder übertragbar sind, auf Länder mit einer völlig anderen Altersstruktur der Bewohner, einer anderen Sozialstruktur und Wohnkultur, mit einer anderen Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems etc. All dies unterblieb – es regierte angesichts der Bilder Emotion, Erschütterung, Entsetzen und nicht wissenschaftliche Rationalität. 

 

Kinder in der Pandemie

Besonders eklatant ist dieser Befund im Hinblick auf Kinder und unsere Bildungseinrichtungen, insbesondere Kindergärten und Schulen. Bereits am 28. April forderte die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene auf der Grundlage einer Vielzahl aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse die sofortige Öffnung von Kitas und Schulen. Am 8. Mai erschien im Deutschen Ärzteblatt ein ausführlicher Artikel über eine große Zahl wissenschaftlicher Studien, die der Frage der Rolle der Kinder bei der Verbreitung des Virus nachgingen. Es handelt sich hierbei um insgesamt 18 Studien aus verschiedenen Ländern in verschiedenen Größenordnungen sowohl zum Anteil von Kindern unter den Infizierten sowie zu ihrer Infektiosität. All diese Studien kommen zu dem Schluss, dass Kinder, insbesondere Kinder unter 15 Jahren, bei der Übertragung keine relevante Rolle spielen. 

Zudem gibt es bereits Studien über die Effektivität der getroffenen Maßnahmen, wobei, etwa in einer großen Schweizer Studie, die auch Deutschland mitberücksichtigt, Schließungen von Kitas und Schulen eine nur sehr geringe Effektivität bescheinigt wurde. Dazu würde ja auch die für Nicht-Virologen mögliche Beobachtung passen, dass da, wo Kindergärten und Grundschulen geöffnet blieben, nirgendwo ein katastrophischer Verlauf der Fallzahlenentwicklungen zu konstatieren war. Es würde auch zu der Beobachtung passen, dass Dänemark seine Kindergärten am 20. April wieder geöffnet hat, mit dem Ergebnis weiter sinkender Infektionszahlen. Gleiches gilt auch für Sachsen, das Kindergärten und Grundschulen seit dem 18. Mai wieder geöffnet hat, wiederum ohne Anstieg der Infektionszahlen oder Bildung von Infektionsherden. Bereits am 19. Mai haben sich dieser Sicht der Dinge auch vier medizinische Fachgesellschaften angeschlossen und die Öffnungen von Kitas und Schulen gefordert

Angesichts dieser Datenlage und der ungeheuren psychischen, ökonomischen und sozialen Kosten, die das Schließen von Kindergärten und Grundschulen für Kinder und Eltern mit sich bringt, muss man sich fragen, warum die verfügbaren wissenschaftlichen Daten nicht handlungsleitend waren oder wenigstens jetzt werden? Warum hält man an Pandemieplänen mit Schulschließungen fest, obwohl diese mit Daten und Erfahrungen der Spanischen Grippe arbeiten, die vor 100 Jahren wütete, und obwohl mittlerweile belegt ist, dass sich das neue Coronavirus im Hinblick auf die altersspezifische Übertragung völlig anders verhält als die Influenza? 

„Gewünschte Schockwirkung“

Des Rätsels Lösung findet sich – zumindest zum Teil – in einem internen, nicht für die Öffentlichkeit gedachten Strategiepapier, das das Innenministerium Ende März entwickelt und mittlerweile auch auf seiner Homepage veröffentlicht hat und das seinerseits auf die Macht der Bilder setzt. Hier heißt es in erstaunlicher Offenheit, dass eine Kommunikationsstrategie gefahren werden sollte, die der Bevölkerung möglichst viel Angst macht und Sprachbilder vorschlägt, um die „gewünschte Schockwirkung“ zu erzielen. Gezielt sollte man das qualvolle Ersticken in den Fokus rücken, denn dieses sei eine „Urangst“ des Menschen. Insbesondere Kinder seien als Gefahrenquelle darzustellen, man solle ihnen vor Augen führen, dass sie sich leicht „bei den Nachbarskindern“ anstecken können und dann Schuld seien, wenn die Eltern zu Hause vor ihren Augen ersticken müssten. Schließlich wird empfohlen, Parallelen zur Spanischen Grippe zu behaupten. 

Man könnte hieraus nun verschwörungstheoretisch folgern, die gesamte Presse folge dieser Linie und sei sozusagen von oben gesteuert. Das ist mit Sicherheit nicht der Fall, über das von abgeordnetenwatch.de geleakte Strategiepapier des Innenministeriums wurde im Focus, in der taz, der NZZ, der Süddeutschen etc. kritisch berichtet. Kommunikativer Erfolg setzt außerdem überzeugende Vergleiche und Bilder voraus, sie müssen auf eine Gesellschaft treffen, die für das angebotene Narrativ auch empfänglich ist: Der Vergleich mit Kindern als Virenschleudern etwa, die Erfahrungen mit der normalen Grippe, die patriarchal fundierte Annahme, um Kinder können sich sowieso die Frauen kümmern, Kitas und Schulen seien also leicht zu ersetzen etc. Entscheidend ist: Die metonymische Verwechselung der unberechenbaren Viren mit der unberechenbaren Lebendigkeit von Kindern, die gerade jenes Unkontrollierbare repräsentieren, das in Zeiten der Seuche so viel Angst erzeugt: Kinder halten so wenig Abstand wie die Viren selbst. 

Verkehrung der Beweislast

Man kann natürlich der Meinung sein, dass die Ergebnisse von 18 Studien, die alle in Richtung des gleichen Sachverhalts deuten, keine ausreichende Sicherheit bieten, um, wie in Sachsen, Kindergärten und Grundschulen ohne Hygienekonzepte wieder zu öffnen, aber dann kann man eben nicht mit, sondern nur gegen den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung argumentieren, d.h. mit dem Zweifel an den wissenschaftlichen Ergebnissen und der eigenen bilderinduzierten Angst. Interessant ist dabei die dem Diskurs zugrundeliegende Richtung der Beweislast: Mit hundertprozentiger Sicherheit muss gezeigt werden, dass Kinder keine pandemischen Katalysatoren sind, dabei wäre das Umgekehrte plausibel: Wer Kitas und Grundschulen schließt und vielerorts weiter den Normalbetrieb aussetzt, muss Beweise oder mindestens starke Evidenzen für die Notwendigkeit dieser Maßnahmen haben. Diese merkwürdige Verkehrung zuungunsten der Kinder gilt dann bis in die Berichterstattung hinein: So berichtet beispielsweise die Süddeutsche Zeitung am 27. Mai von den obengenannten Studien und der hier ablesbaren hohen Wahrscheinlichkeit, dass Kinder keine relevante Rolle in der Weitergabe der Infektion spielen. Außerdem wird der Fall eines infizierten Kindes dargestellt, dessen 172 Kontaktpersonen man verfolgen konnte. Ergebnis: Das Kind hat keine einzige dieser 172 Personen angesteckt. Im Anschluss wird die Studie des Virologen Christian Drosten referiert, die die Viruslast infizierter Kinder untersucht hatte. Die Studie wird im Hinblick auf ihre Aussagekraft bezüglich der Gefahr, die von Kindern ausgeht, relativiert – und dann folgt das überraschende Fazit: „Somit bleibt die Rolle der Kinder weiterhin offen.“ Das wäre so, wie wenn es in einem Fußballspiel 18:1 steht und der Reporter sagt, es sei weiterhin offen, wie das Spiel ausgehe.

Angst statt Wissenschaft

Warum aber reicht die überwältigende Wahrscheinlichkeit, dass Kitas und Grundschulen gefahrlos geöffnet werden können, nicht aus, warum verlangt man hier immer weitere Studien und noch mehr Sicherheit – und warum werden die Ergebnisse dieser Studien – jedenfalls bis vor Kurzem – in den großen Medien fast gar nicht bekannt gemacht? 

Auf eine diesbezügliche Anfrage an die Autoren der oben genannten Studien antwortete der Vorstandssprecher der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene, Peter Walger, am 07.06.2020:

"Es ist bemerkenswert wie ignorant Teile der ansonsten aufgeklärten Medien sind, wie einseitig die öffentliche Debatte die Daten ausklammert, die in vielen Ländern inzwischen den Alltag an Schulen und Kitas bestimmen. Dass die Bildungsministerin komplett den Positionen des führenden Virologen folgt, ist nicht verwunderlich. Da wird Nähe zur Wissenschaft generell, die ja grundsätzlich zu begrüßen ist, verwechselt mit Nähe zu einem engen Spektrum einer virologisch-laborwissenschaftlichen Sichtweise bei Ausklammerung eines wesentlich breiteren Wissensstandes um Infektionsrisiken und Infektionsprävention." Peter Walger, DGKH

Schließt man weiter Kitas und Schulen (oder öffnet sie nur für jedes Kind ein paar Stunden pro Woche), dann musss man offen sagen, unsere Angst, dass Kinder doch jene wirbligen, kontaktintensiven Virenschleudern sind, die wir doch von der Grippe so gut kennen, ist wichtiger in der Entscheidungsfindung als die aktuellen wissenschaftlichen Daten – dann muss man sagen, wir entscheiden auf der Grundlage von Emotionen und nicht von Rationalität. Und alle anderen müssen sich fragen, was es über eine Gesellschaft aussagt, dass sie ihr eigenes Handeln permanent als wissenschaftskonform feiert und Fake-News geißelt, aber nicht merkt, dass sie bloß angstgetrieben und sicherheitsideologisch nur noch auf eine ‚Gefahr’ starrt und alle anderen ausblendet; was es über eine Gesellschaft aussagt, dass sie gegen die Daten der Wissenschaft ihre eigenen Kinder von Bildung fernhält? Dass sie in Kindern immer noch das Bild des viralen Todes sieht, obwohl die Wissenschaft dies längst widerlegt hat? Dass sie auch jetzt noch reflexhaft Kitas und Schulen schließt, wenn in Fleischbetrieben Corona-Fälle auftreten?

 

Der Autor

Prof. Dr. Johannes F. Lehmann (Jahrgang 1966) ist seit 2014 an der Universität Bonn Professor für Neuere Deutsche Literatur- und Kulturwissenschaft. Er ist Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs 2291 "Gegenwart/Literatur. Geschichte, Theorie und Praxeologie eines Verhältnisses".  Kontakt: johannes.lehmann@uni-bonn.de

 

Lebenszeichen – Wir bleiben im Gespräch

Unter dem Titel „Lebenszeichen – Wir bleiben im Gespräch!“ veröffentlicht die Universität Bonn Beiträge aus den Reihen ihrer Angehörigen, die unter dem Eindruck der Bekämpfung des Coronavirus und der daraus resultierenden Bedingungen entstanden sind. Sie will damit auch in schwierigen Zeiten den Diskurs aufrechterhalten und die universitäre Gemeinschaft stärken. In loser Folge erscheinen dazu auf dieser Website Beiträge von Universitätsangehörigen, die das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten, Dialoge in Gang setzen, Tipps und Denkanstöße austauschen wollen. Wer dazu beitragen möchte, wendet sich bitte an das Dezernat für Hochschulkommunikation, kommunikation@uni-bonn.de.

 

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