In der Apostelgeschichte des Lukas, die sich als erstes historiogaphisches Werk des werdenden Christentums verstehen lässt, begeben sich Leserinnen und Leser auf eine regelrechte Tour de force mit den ersten Christusgläubigen und insbesondere dem Apostel Paulus. Die Geschichte zeichnet sich durch rasche Ortswechsel aus. „Der Erzähler bietet seinem Lesepublikum gleichwohl ausreichend Gelegenheit, sich in den verschiedenen urbanen Zentren des Mittelmeerraums zu orientieren und versteht es, das spezifische Gepräge einer römischen Kolonie wie Philippi oder einer multiethnischen Metropole wie Ephesos wachzurufen“, sagt Juniorprofessor Dr. Jan Rüggemeier von der Abteilung für Neues Testament der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.
Dies geschehe nicht nur durch den Einsatz prominenter Schauplätze, die im kulturellen Bewusstsein antiker Personen verankert sind, sondern auch durch eine Vielzahl literarischer Visualisierungsstrategien, die in sehr eindrücklicher Form Lesende zu Erlebenden machen. Während die in die Erzählung eingestreuten lokalen Details bisher in der Forschung vor allem zur Bewertung der historischen Plausibilität herangezogen wurden, untersuchen Rüggemeier und seine Kolleg*innen diese Details stärker im Hinblick auf ihren immersiven Effekt hin. Ähnlich der Immersion von Teilnehmenden an einem Computerspiel geht es in dem Forschungsprojekt „Narrative Space and Possible Worlds: Encountering Ancient Narrative from a Cognitive Science Perspective“ darum, wie Menschen anhand von Texten, Bildern oder Schauplätzen in die Welt des frühen Christentums „eintauchen“.
Wie orientiert man sich beim Betrachten eines Bildes?
Wie orientiert man sich beim Betrachten eines Bildes oder in einer erzählten Welt? Wie lassen sich Kategorien der Fiktion und Faktualität kognitionswissenschaftlich plausibel machen? Durch welche körperlichen Erfahrungen und Reaktionen werden kognitive Prozesse des Raumverstehens begleitet? Solche Fragen untersuchen die Forschenden um Juniorprofessor Jan Rüggemeier von der Universität Bonn und Dr. Lenia Kouneni von der University of St Andrews in dem Vorhaben. Es wird mit einem „Collaborative Research Grant“ der Universität Bonn mit rund 23.000 Euro gefördert.
„Das Anliegen und Ziel des kollaborativen Projekts ist es, dass inter- und transdisziplinäre Gespräch auf der Schnittstelle zwischen Altertums- und Kognitionswissenschaften zu fördern“, berichtet Rüggemeier. Zusammen mit Prof. Dr. Elizabeth Shively (ehemals St Andrews, jetzt Baylor University) ist der Theologe der Universität Bonn Begründer des Wissenschaftsblogs „Diegesis in Mind“ und Hauptherausgeber der gleichnamigen Buchreihe. „Die modernen Kognitionswissenschaften bieten für die Erforschung antiker Text- und Bildmedien einen erheblichen theoretischen und methodischen Mehrwert“, ist Rüggemeier überzeugt. Der Wissenschaftler ist auch Mitglied in den Transdisziplinären Forschungsbereichen „Individuals & Societies“ sowie „Present Pasts“ an der Universität Bonn.
Fokussierung auf den Raum
Obwohl es in den einzelnen Disziplinen bereits Ansätze gebe, wie sich kognitionswissenschaftliche Theorieelemente nutzen lassen, fehle bisher eine gegenseitige Wahrnehmung der jeweils anderen Fachdiskurse. „Zudem fehlt noch ein ausreichendes Bewusstsein dafür, wie es zum transmedialen Übergang von erzählerischen Inhalten kommt“, so Rüggemeier. Wie beeinflussen sich textlich verfasste und eher bildlich in Szene gesetzte Erzählungen innerhalb des antiken Kulturraums? Welches kulturelle Vorwissen wird bei der jeweiligen Rezeption eines erzählerischen Inhalts vorausgesetzt? Und wie lässt sich eine entsprechende Kontinuität im kulturellen Gedächtnis plausibel machen? Um das Augenmerk stärker auf solche transmedialen gegenseitigen Abhängigkeiten zu richten, sind in das Forschungsvorhaben nicht nur Textwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler einbezogen, sondern auch Kunstgeschichte, Christliche Archäologie und Klassische Archäologie beteiligt. Neben Figurenbegriff und Handlungsanalyse fokussieren sich die Forschenden nun auch stärker auf den “Raum”, in dem die Erzählungen stattfinden.
Gemeinsam mit seiner Assistentin Lara Mührenberg und seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Simeon Redinger hat sich Rüggemeier mit dem Phänomen der Immersion in der frühchristlichen Literatur und Ikonographie auseinandergesetzt. „Vor allem der Ansatz der sogenannten 4E Cognition und des Embodiments und Marco Caracciolos Begriff des Virtual Body waren hier für unsere Forschung weiterführend“, berichtet der Juniorprofessor. „4E“ stehen für verkörpert (embodied), eingebettet (embedded), in der Interaktion mit der Welt (enacted) und erweitert (extended). Damit ist gemeint, dass unsere Wahrnehmung der Welt nicht allein auf unseren Gehirnen beruht, sondern auf unserem ganzen Körper, der mit der Welt in Zusammenhang steht. Auch Werkzeuge können Teil des kognitiven Systems sein und werden als „erweiterter Geist“ (extended mind) bezeichnet.
Wahrnehmung antiker Momente durch zeitgenössische Betrachtende
So haben sich Stefanie Archut (Christliche Archäologie) und Lara Mührenberg (Neues Testament) im Rahmen des Projektes mit antiken Sakral- und Sepulkralräumen beschäftigt. Rüggemeier: „Mithilfe der Konzepte der 4E-Cognition sowie der Cognitive Architecture ist es möglich, die Wahrnehmung antiker Monumente - Architektur und figürliche beziehungsweise ornamentale Ausstattung - durch zeitgenössische Betrachtende genauer zu untersuchen und aufzuzeigen, dass und wie sich die Wahrnehmung dieser Räume von derjenigen heutiger Rezipient*innen unterscheidet.“ Wie wird durch die Interaktion von architektonisch ausgeformtem Raum (Architektur und figürliche beziehungsweise ornamentale Ausstattung) und Betrachtenden ein mit Bedeutung aufgeladener Ort kreiert? „Der antiken Wahrnehmung nach kann eine Kontaktzone zu einer überirdischen Sphäre geschaffen werden“, berichtet Rüggemeier.
Der Wissenschaftler hat kürzlich mit seinem Team und Dr. Lenia Kouneni (St Andrews) zwei Workshops und eine internationale Konferenz mit dem Titel „Narrative Space and Possible Worlds: Encountering Ancient Narratives from a Cognitive Science Perspektive“ organisiert, um sich über das gemeinsame Forschungsvorhaben auszutauschen und eine Publikation vorzubereiten. „Es ist zudem beabsichtigt, die Kooperation auszubauen und hierfür bis Ende des Jahres einen gemeinsamen Drittmittelantrag auf den Weg zu bringen“, berichtet der Juniorprofessor der Universität Bonn. Zugleich sollen weiterhin Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler gewonnen und Lehrformate für Master-Studierende entwickelt werden, etwa Studienreisen und hybride Seminare. Rüggemeier: „Auch hier sind die Gespräche bereits fortgeschritten.“
Mehr zum Projekt: www.diegesis-in-mind.com