Es ist kein einfacher Weg zu einer möglichen neuen Bundesregierung. Eine Neuauflage der großen Koalition ist noch ungewiss. Immer wieder ist deshalb auch eine „Minderheitsregierung“ im Gespräch, die sich nicht auf die Mehrheit der Sitze im Bundestag stützen könnte. Auf Bundesebene wäre so etwas ein Novum und ist heftig umstritten: Regieren ohne Mehrheit – geht das? Für seine Doktorarbeit hat der Politologe Martin Pfafferott diese Frage an der Universität Bonn untersucht. Ergebnis: Solche Modelle können effizient funktionieren. Pfafferotts Arbeit „Die »ideale Minderheitsregierung«“ entstand bei Prof. Dr. Frank Decker am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Hochschule und soll im Frühjahr 2018 als Buch erscheinen.
„Ich habe versucht zu zeigen, dass Minderheitsregierungen im Interesse aller beteiligten Akteure sein können“, erklärt Pfafferott. „Sie sind nichts Irrationales, sondern im Gegenteil ein zutiefst rationales Regierungsformat.“ Als einen Grund nennt er, dass es Umstände gibt, in denen Parteien bewusst nicht regieren wollen. „Parteien können auch andere Interessen haben. Manchen ist es wichtiger, neue Wähler zu gewinnen oder die innerparteiliche Geschlossenheit zu wahren. Statistik und Erfahrungen zeigen, dass Parteien, die an der Regierung sind, mit hoher Wahrscheinlichkeit bei der nächsten Wahl Stimmen verlieren werden und innerparteiliche Konflikte bekommen. Aus der Ratio heraus kann es nützen, Kosten und Nutzen abzuwägen und zu sagen: Wir wollen nicht regieren.“
Stabilität rührt daraus, dass niemand Neuwahlen will
Als Beispiel nennt Pfafferott die Legislaturperiode von 1998 bis 2002 in Sachsen-Anhalt. „Die SPD stellte die Minderheitsregierung und die PDS tolerierte sie – weil sie im politischen System noch nicht völlig etabliert war und ihren Mitgliedern eine Regierungsbeteiligung auch nicht antun wollte.“ Oppositionsparteien waren damals CDU und die DVU, erläutert der Forscher. Für die DVU sei klar gewesen, nicht in die Regierung zu wollen. Die CDU hingegen hatte über zehn Prozent verloren und befand sich in einer innerparteilichen Krise. Zwar lehnte sie eine Regierungsbeteiligung nicht ab. Vier Jahre Opposition konnten ihr aber viel attraktiver erschienen, als Juniorpartner in einer SPD-geführten Großen Koalition zu sein. „Es war daher für alle drei von Interesse, die SPD-Minderheitsregierung im Amt zu lassen. So eine Stabilität muss sich so manche Mehrheitsregierung erst einmal suchen.“
Ähnliches galt laut Pfafferott für die rot-grüne Minderheitsregierung, die Hannelore Kraft von 2010 bis 2012 in Nordrhein-Westfalen führte. „Die Linkspartei wollte Projekte der schwarz-gelben Vorgängerregierung rückgängig machen, zum Beispiel die Studiengebühren.“ Zugleich hatte sie kein Interesse an Neuwahlen: Sie war mit 5,6 Prozent nur knapp in den Landtag gekommen und musste fürchten, wieder herauszufliegen. Ähnliches galt für die FDP: „Es war die Zeit, als Philipp Rösler die Bundespartei führte und die in keiner guten Lage war.“ Für Rot-Grün habe es daher gereicht, „wechselweise je eine der beiden auf ihre Seite zu ziehen.“
Minderheitsregierungen bieten Wege aus Blockaden
Pfafferott hält die Ergebnisse seiner Forschung grundsätzlich für übertragbar auf den Bund oder auf andere Staaten – sofern sie „parlamentarisch“ verfasst sind, die Regierung also vom Parlament bestimmt wird, nicht vom Präsidenten wie in den USA. „Einige Konstanten haben Geltung über Grenzen hinweg“, sagt der Experte. Zum Beispiel sei es für Minderheitsregierungen vorteilhaft, wenn die Parteien, die sie tragen, in der Mitte des Spektrums stehen und die übrigen Parteien rechts und links davon. „Eine solche Regierung lebt, weil die Opposition ihre Mehrheit nicht nutzen kann. Regierungen brauchen nicht zwingend eine eigene Mehrheit. Es reicht aus, wenn es keine alternative, politisch realisierbare Mehrheit gegen sie gibt.“
Der Wissenschaftler der Universität Bonn folgert, „dass Minderheitsregierungen von der Politikwissenschaft verstärkt in den Fokus genommen werden müssen“. Die Entwicklung gebiete dies: „Wir haben jetzt sieben Parteien im Bundestag. Mit jeder, die dazukommt, wird die Bildung einer direkten Mehrheit unwahrscheinlicher. Und demokratietheoretisch haben Minderheitsregierungen das große Plus, dass sie Auswege aus Blockaden bieten.“ Sie hälfen dabei, „Gruppen zueinanderzuführen, die bisher nicht miteinander konnten.“ So habe der Weg der PDS zur Regierungsfähigkeit 1994 bis 1998 mit der Tolerierung der rot-grünen Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt begonnen: „Das war ihre erste, wenn auch indirekte, Regierungsbeteiligung überhaupt“, eine Art Vorbereitung für die erste formale rot-rote Koalition in Mecklenburg-Vorpommern 1998. „Es kann helfen, sich erst mal kennenzulernen, wenn zwei Parteien sich noch nicht ganz trauen. Man kann feststellen, ob und wie man miteinander arbeiten kann. Auf diese Weise kann man ein Fundament für eine kommende stärkere Zusammenarbeit legen.“
Publikation: Martin Pfafferott: Die „ideale Minderheitsregierung“ – Bedingungen für ihr Entstehen und Überleben anhand der Beispiele Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen. (Erscheint im Frühjahr 2018 bei Springer VS)
Kontakt für die Medien:
Martin Pfafferott
E-Mail: martin.pfafferott@posteo.de