Pferd? „Perd.“ Bürste? „Bürsch.“ Katze? „Mimm.“ Margret Vaßen sitzt am Esstisch ihrer Wohnung in Jülich und übersetzt blitzschnell die hochdeutschen Begriffe ins Plattdeutsche. Lisa Glaremin, Doktorandin der Linguistik, legt Sätze und Bilder vor, die Antworten nimmt sie mit ihrem Tonbandgerät auf. Manchmal zeigt sie Fotos, zum Beispiel von Käse. „Kies“, kommt es wie aus der Pistole geschossen.
Der Parforceritt durch den Mundart-Wortschatz der Jülicherin wird rund zweieinhalb Stunden dauern. „Das ist eher kurz“, berichtet Glaremin, die mehrmals pro Woche loszieht, um das lokale Idiom der älteren Generation einzufangen. „Frau Vaßen ist sehr konzentriert und schnell.“ Eine solche Befragung kann auch fünf Stunden und mehr dauern, je nachdem wie alt die Menschen sind und wie viele Pausen sie zwischendurch brauchen. An die 800 Fragen müssen beantwortet werden.
Kulturgut für die Nachwelt
Die 69-Jährige gehört eher zu den Jüngeren. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die für das Langzeitprojekt „Dialektatlas Mittleres Westdeutschland“ arbeiten, haben es auf die ältere Landbevölkerung abgesehen, die ihrem Dorf oder ihrer Kleinstadt treu geblieben sind. „Dort haben wir die besten Chancen, noch den ursprünglichen Dialekt vorzufinden“, sagt Glaremin. Da lokale Mundarten immer seltener gesprochen werden, geht es auch darum, dieses Kulturgut für die Nachwelt zu dokumentieren.
Bei Margret Vaßen hat die Wissenschaftlerin Glück: Fast ihr ganzes Leben verbrachte die Landbewohnerin in Kirchberg, einem kleinen Dorf in der Nähe. Erst vor Kurzem zog sie nach Jülich, „weil das Haus und der Garten allein für meinen Mann und mich viel zu groß waren – das war nicht mehr zu schaffen.“ Vater und Großvater stammen aus dem Ort, die Mutter aus dem Nachbardorf. Früher wohnten mehrere Generationen in dem großen Gebäude: Großeltern, Eltern, Onkel und Tante.
Jedes Dorf hat sein eigenes Platt
Glaremin legt eine Karte von Kirchberg und Umgebung auf den Tisch: „Bitte markieren Sie mit dem grünen Stift die Orte, in denen so gesprochen wird wie in Kirchberg.“ Margret Vaßen zögert und lächelt: „Das geht nicht. Jedes Dorf hat bei uns sein eigenes Platt.“ Die Bewohner der verschiedenen Dörfer verstehen sich untereinander, doch ihre Mundart weist charakteristische Nuancen auf.
Hummel? „Knö-esch.“ Amsel? „Merl.“ Spitznamen für die Dorfbewohner? „Muttkrat. Das bedeutet Schlammkröte.“ Dann fragt Glaremin wieder nach ganzen Sätzen: Das ist für Euch? „Et is für üsch.“ Halbzeit – und keine Spur von Ermüdung. Die Wissenschaftlerin führt einen Videoclip auf dem Laptop vor, in dem es ums Kartoffelschälen geht. Vaßen: „Die Frau is am Erpele schäle.“
Das geht ihr mühelos von den Lippen. Kein Wunder: Die Jülicherin trägt aktiv zur Erhaltung des „Platt“ bei, ist Mitglied in einer Mundartgruppe. Sie organisiert regelmäßig Treffen, bei denen auch Sketche aufgeführt und sämtliche Veranstaltungen im Dialekt gehalten werden. Bis zu 100 Kinder, Jugendliche und Ältere drängen sich dann im Jugendzentrum von Kirchberg. „Der jüngste Mitspieler der Mundartgruppe ist acht Jahre alt und kommt mit seiner Oma“, erzählt Vaßen.
Altertümliche „Wenker-Sätze“
Die Befragung ist auf der Zielgeraden: Zum Schluss stehen noch die „Wenker-Sätze“ an. Ab den 1870er Jahren verschickte der Sprachwissenschaftler Georg Wenker an die Schulen im gesamten deutschen Sprachraum Fragebögen mit 40 kurzen Sätzen in Hochdeutsch, die er mit Hilfe der Lehrer in die jeweiligen Ortsdialekte übersetzen ließ. Auch für Kirchberg liegen Ergebnisse zu dieser historischen Befragung vor. „Wir wollen auch vergleichen, was sich seitdem sprachlich verändert hat“, erläutert Glaremin.
Für Erheiterung sorgt die Anekdote, die Margret Vaßen dann noch zum Besten gibt: In der Dorfschule sollte sie als Kind einen Aufsatz verfassen. Sie schrieb kurzerhand über ihr häusliches Umfeld. Die Lehrerin war begeistert, als Düsseldorferin hatte sie aber nicht alle Worte verstanden. „Was ist ein Schotteplack?“ fragte die Lehrerin. Vaßen: „Das ist ganz einfach: ein Spüllappen.“
Das Projekt:
Während etwa von Bayern, Siegen und dem Mittelrhein bereits Sprachatlanten vorliegen, wird dies nun mit dem „Dialektatlas Mittleres Westdeutschland“ für Nordrhein-Westfalen, Teile des angrenzenden Bundeslandes Rheinland-Pfalz und Niedersachsens erstellt. Die Universitäten Siegen, Paderborn, Münster und Bonn haben das Gebiet unter sich aufgeteilt. Die Bonner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind unter der Leitung von Prof. Dr. Claudia Wich-Reif von der Germanistischen Linguistik für die Eifel, das Ruhrgebiet und Teile des Niederrheins zuständig – und damit für fast 700 Befragungen. Das Projekt startete 2016 und läuft bis 2032.
Hilfskräfte schneiden und transkribieren die Aufzeichnungen der Befragungen in Lautschrift. Ziel sind interaktive Karten, die Schritt für Schritt ins Internet eingestellt werden. Bald lassen sich per Mausklick die lokalen Bezeichnungen für bestimmte Begriffe abfragen und anhören. Parallel werden auch jüngere Menschen befragt, um zu untersuchen, welche Mundartbegriffe weiter überliefert worden sind.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaflter schreiben für die Probandensuche Kirchengemeinden und Heimatvereine an, auch über Zeitungsartikel und Vorträge finden sie geeignete Teilnehmer. Wer älter als 70 Jahre ist und nicht länger anderswo gelebt hat, außerdem ein Elternteil aus dem gleichen Ort stammt, kann sich bei Lisa Glaremin unter Tel. 0228/737983 und E-Mail glaremin@uni-bonn.de oder per Post an die Adresse Am Hofgarten 22, 53113 Bonn melden.
Informationen zum Projekt: www.dmw-projekt.de
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