Vor zwei Wochen veröffentlichte das deutsche eROSITA-Konsortium die Daten der ersten All-Sky-Durchmusterung (zur Pressemeldung: https://www.uni-bonn.de/de/neues/021-2024). Ihr Hauptziel ist ein besseres Verständnis der Kosmologie, indem sie das Wachstum von Galaxienhaufen, die zu den größten Strukturen im Universum gehören, misst. Anhand der von heißem Gas ausgesandten Röntgenstrahlung in Kombination mit Massenmessungen dieser Haufen durch den schwachen Gravitationslinseneffekt konnten die Forschenden präzise Messungen sowohl der Gesamtmenge der Materie im Universum als auch ihrer Klumpenbildung vornehmen. Während frühere Messungen der Klumpenbildung mit verschiedenen Techniken, insbesondere dem kosmischen Mikrowellenhintergrund (CMB) und der sogenannten kosmischen Scherung, voneinander abwichen, zeigen die eROSITA-Messungen eine Übereinstimmung mit dem CMB.
"eROSITA hat nun die Messung der Entwicklung von Galaxienhaufen als Werkzeug für die Präzisionskosmologie etabliert", sagt Dr. Esra Bulbul vom MPE, die leitende Wissenschaftlerin des eROSITA-Konsortiums und Kosmologie-Teams, das die bahnbrechenden Ergebnisse lieferte. "Die kosmologischen Parameter, die wir mit Galaxienhaufen messen, stimmen mit den modernsten CMB-Daten überein und zeigen, dass das gleiche kosmologische Modell von kurz nach dem Urknall bis heute gilt."
Nach dem kosmologischen Standardmodell, dem sogenannten Lambda-Cold-Dark-Matter-Modell (ΛCDM), war das junge Universum ein extrem heißes, dichtes Meer aus Photonen und Teilchen. Im Laufe der kosmischen Zeit wuchsen winzige Dichteunterschiede zu den großen Galaxien und Galaxienhaufen, die wir heute sehen. Die eROSITA-Beobachtungen zeigen, dass alle Arten von Materie (sichtbare und dunkle) 29 Prozent der Gesamtenergiedichte des Universums ausmachen, was in Übereinstimmung mit den Werten steht, die aus Messungen des CMB gewonnen wurden.
Durch die Messungen hat eROSITA die sogenannte "S8-Spannung" aufgelöst. Sie entsteht dadurch, dass aktuelle Analysen des CMB einen höheren S8-Wert ergeben als kürzlich durchgeführte Messungen der kosmischen Scherung, der Verzerrung des Lichts ferner Galaxien durch großräumige Strukturen des Alls. Die S8-Spannung hätte die Entwicklung einer neuen physikalischen Theorie bedeutet – hätte eROSITA die Spannung jetzt nicht aufgelöst. "eROSITA sagt uns, dass sich das Universum während der gesamten kosmischen Geschichte wie erwartet verhalten hat", sagt Dr. Vittorio Ghirardini, Postdoktorand am MPE und Leiter der kosmologischen Studie.
Die größten Strukturen im Universum enthalten auch Informationen über die kleinsten Teilchen: Neutrinos. Diese leichten Teilchen sind fast unmöglich nachzuweisen. Über die Häufigkeit der größten Halos dunkler Materie im Universum hat das Konsortium die bisher genaueste vergleichbare kombinierte Messung der Masse der Neutrinos erzielt.
Ein wichtiger Bestandteil der Analyse sind Messungen des schwachen Gravitationslinseneffekts. Dieser Effekt beschreibt kohärente Verzerrungen, die den beobachteten Formen entfernter Galaxien aufgeprägt werden, wenn ihre Lichtstrahlen das Gravitationsfeld von Vordergrundstrukturen durchdringen. Während Studien der kosmischen Scherung den Effekt entlang zufälliger Richtungen untersuchen, kann er auch in der Nähe von Galaxienhaufen gemessen werden, um deren Masse zu schätzen. Das eROSITA-Team hat solche Messungen unter Einbeziehung von Daten aus drei aktuellen Gravitationslinsen-Durchmusterungen durchgeführt: dem Dark Energy Survey (DES), dem Hyper Suprime Cam Survey (HSC) und dem Kilo-Degree Survey (KiDS). Diese Messungen kalibrieren die Beziehung zwischen dem eROSITA-Röntgensignal und der Haufenmasse und ermöglichen so den Vergleich mit kosmologischen Modellvorhersagen.
"Ich bin stolz auf das Gravitationslinsen-Team, das hervorragende Arbeit geleistet hat, indem es die Analysen aller drei führenden Gravitationslinsen-Durchmusterungen für die eROSITA-Haufenmassenkalibrierung zur Verfügung gestellt hat. Diese hat die jetzt veröffentlichten Ergebnisse ermöglicht", sagt Prof. Dr. Thomas Reiprich vom Argelander-Institut für Astronomie (AIfA) an der Universität Bonn, der das Gravitationslinsen-Arbeitspaket innerhalb des eROSITA-Haufen- und Kosmologie-Teams von 2019 bis Ende 2023 geleitet hat. Er ist zudem Mitglied im Transdisziplinären Forschungsbereich „Matter“ der Universität Bonn. Die Analyse der "KiDS"-Durchmusterung und der detaillierte Vergleich zwischen allen drei Durchmusterungen wird heute in einer Veröffentlichung unter der Leitung von Florian Kleinebreil, Doktorand in der Gruppe von Prof. Dr. Tim Schrabback, vorgestellt. Beide haben die meiste Arbeit an diesem Projekt in den vergangenen Jahren am AIfA geleistet, wechselten aber im Herbst 2022 an die Universität Innsbruck. "Wir haben festgestellt, dass die drei Lensing-Durchmusterungen konsistente Massenbeschränkungen für die eROSITA-Haufen liefern, was einen wichtigen Konsistenztest für die Gesamtanalyse darstellt", erklärt Kleinebreil. "Die abgeschlossene Analyse zeigt die herausragende kosmologische Aussagekraft von kombinierten Analysen modernster Galaxienhaufenproben und Beobachtungsprogrammen zur Vermessung des schwachen Gravitationslinseneffekts. Dieser Bereich wird sich in den kommenden Jahren weiter entwickeln, auch dank der nächsten Generation von Programmen zur Beobachtung des schwachen Linseneffekts, einschließlich des Programms, das von ESAs neuem Weltraumteleskop Euclid durchgeführt wird", fügt Schrabback hinzu.