10. Juni 2021

„Sprache als nichts, was sicher ist“ Interview mit Ulrike Almut Sandig

Ulrike Almut Sandig ist die zehnte Thomas-Kling-Poetikdozentin an der Uni Bonn

Was macht eine Poetik-Dozentin? Womit können wir in Bonn in diesem Jahr rechnen? Was sagt Sprache über uns aus, und wie verändert uns Sprache? Ein Interviewaus der forsch 2021/01.

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Sie haben gerade die Thomas-Kling-Poetikdozentur in Bonn angetreten. Womit können wir in diesem Jahr rechnen?

Ich halte ein Werkstattseminar über das Eigene und das Fremde. Auf der literarischen Ebene geht es um das „Ich“ und das „Du“. Wie hoch ist die Schnittmenge zwischen beiden? Ist „Du“ nicht das gleiche, nur von der anderen Seite aus betrachtet? Und es geht um eigene und andere Denkweisen und Techniken, mit Texten umzugehen. Wir sehen uns Schnittstellen an, zwischen Literatur mit Schwerpunkt auf Dichtung, zwischen Dichtung und anderen Denk- und Kunstformen, in Medien, Naturwissenschaften, Performance- und Videokunst. Etwa in Instagram-Posts: Was funktioniert, was weniger? Die Studierenden schreiben dabei Texte und gestalten eine Intervention zusammen mit dem Kölner Komponisten Jörg Ritzenhoff in der Stadt Bonn.

Ihre Antritts-Vorlesung fand digital statt. Ihr Beitrag wurde später produziert. War das schwieriger oder von Vorteil für Sie?

Es war schwieriger für alle anderen, insbesondere vielleicht für Dr. Thomas Fechner-Smarsly. Er führte ein Gespräch mit mir, ohne bis auf Stichpunkte zu wissen, was in meinem Beitrag zu sehen sein wird. Aus inhaltlicher Sicht war das für mich spannend, da ich über Sicht- und Hörbarkeit von Dichtung spreche. Im performativen Sinn ist mein Beitrag ein Exempel: Eine Vorlesung lebt von den Reaktionen der Zuhörenden, von Rückfragen – das alles fällt weg. Es braucht also eine Alternative zum realen Austausch – das kann kein aufgenommener Vortrag sein. Ich biete daher ein Performance-Video an, bei der das Publikum frei scrollen, neu abspielen und kommentieren kann. Ich hoffe, das ist ein kleiner Ausgleich und wird die Interaktion mit den Studierenden fördern.

Screenshot aus "Anleitung zum Lachen"
Screenshot aus "Anleitung zum Lachen"

Jetzt hat die Universität Bonn mit Ihnen in Corona-Zeiten Glück. Digitale Formate sind für Sie kein Neuland, bei Ihnen gehen Klang, Bild, Lyrik, Performance und Prosa oftmals Hand in Hand. Ist das die neue Norm in der Literatur?

Nein. Alle sollten das machen, was sie am besten können. Nichts ist schlimmer als ein Schriftsteller, der auf Lesetournee gehen muss, obwohl er keine Lesung geben will und es auch nicht gut kann. Das empfinde ich als Betrug am Publikum. Wenn man sich vor Publikum begibt, dann verlangt es der Respekt, es richtig oder so gut wie möglich zu machen. Selbst wenn man mal daneben liegt.

Uni Bonn: Woher kommt Ihre Beziehung zum gesprochenen und gesungenen Wort?

Zum einen bin ich Pfarrerskind, da habe ich als Kind natürlich viele Predigten gehört und hören müssen. Das hörbare Denken spielt da eine Rolle. Zum anderen hatte ich einen Freundeskreis, der nah an der Musik dran war. Wenn wir zusammensaßen, haben wir schnell etwas vorgetragen, Musik gemacht, gemeinsam improvisiert.

Screenshot aus "Anleitung zum Lachen"

Uni Bonn: Gedichte interpretieren zu können, das ist für viele Schüler:innen vermeintlich nutzloses Wissen. Ist es wichtig, sich mit Sprache auseinanderzusetzen?

Sprache konstituiert unsere Welt. Wir haben unser ganzes Leben mit Sprache zu. In vielen Berufen braucht man eine gewisse sprachliche Lockerheit, einen trainierten Sprachmuskel. Die Frage ist eher: Macht es Sinn, immer aus der Perspektive der Lesenden auf Sprache zu schauen? Ist es nicht sinnvoller, den Deutschunterricht von der Seite der Schreibenden aufzubauen, Schüler mehr schreiben zu lassen? Im Kunstunterricht wird gemalt. Der Deutschunterricht begreift Literatur eher als zu Lesendes, statt als etwas, was man selbst machen kann. Das ist schade. Die geballte Kreativität der Schüler:innen landet dann oft woanders, in der Musik, Graffiti, Kunst … Daran verliert die Literatur.

Kinder lieben Melodien und Reime, Gedichte und Gesang. Mit steigendem Alter setzt aber bei vielen eine Entfremdung ein. Wie kommt es Ihrer Meinung dazu?

Eines meiner beiden Kinder ist acht Jahre alt, da ist genau das passiert. Und ich habe geschaut: Was waren in letzter Zeit seine Erfahrungen mit Gedichten? Im Kindergarten waren Gedichte, Reime und Lieder Teil des täglichen Miteinanders. Im Deutschunterricht sind Gedichte oft verbunden mit Abschreiben. Mal, um die Schreibschrift zu trainieren, mal werden Lückentexte aus-
gefüllt. Wenn man selbst etwas schreiben soll, dann nur in vorgegebener Form. Ich möchte nicht die große Leistung der Deutschlehrenden kleinreden. Ich möchte nicht in deren Schuhen stecken. Aber sagen wir einmal so: Das kreative Angebot außerhalb der Kopiervorlagen ist verbesserungswürdig. Dabei kann man auch auf ein neues Lockdown-Projekt verweisen, den POEDU. Dort schreiben Kinder für Kinder, angeleitet von Schriftsteller:innen.

Ein erstes POEDU-Buch von Kindern für Kinder ist bereits im Kölner Elif-Verlag erschienen und auch für (angehende) Lehrende interessant.

Uni Bonn: Was sagt Sprache über unsere Gesellschaft aus, wie kann Sprache Gesellschaft verändern?

Sprache ist wie Religion genuiner Teil einer Gesellschaft. Gesellschaftliche Entwicklungen spiegeln sich in der Sprache wider. Seltsam ist, dass Diskussionen über Veränderungen nur aufkommen, wenn Minderheiten Forderungen stellen. Wenn eine bessergestellte Gesellschaftsgruppe etwas fordert, wird nicht darüber diskutiert. Das ist traurig, bitter und ein bisschen lustig. Dass man sich heiß macht, etwa am Glottisschlag des Gendersternchens, den wir in Komposita haben. Der ist ja nichts Neues in der deutschen Sprache.

Michael Aust, Villa Concordia

Uni Bonn: Sie sind in Nauwalde in Sachsen geboren, nahe Brandenburg. Was hat Sie mehr geprägt: Die Wende? Eine Kindheit in einem 650-Seelen-Dorf? Die Zeit in Leipzig, wo Sie studiert haben?

Es ist prägend, in einem Land aufgewachsen zu sein, das es nicht mehr gibt. Gleichaltrige Leute aus dem Westen haben einen sensorischen Anschluss zwischen Vergangenheit und Gegenwart, den habe ich nicht. Gerüche, Geschmäcker sind verschwunden. Das hat aber viel Gutes! Ich habe früh gelernt, Sprache nicht als etwas Reines, Wahres zu empfinden, sondern als den Spiegel der Welt, die uns umgibt und deren Vorzeichen sich ständig ändern.

Wichtig war auch diese latente Anarchie der 90er Jahre, die zeitlich mit meiner Pubertät zusammenfiel. Mitten im Chaos ständig wechselnder Lehrpläne und Englisch unterrichtender Staatsbürgerkundelehrerinnen genossen wir eine Freiheit, die vor allem darin bestand, dass die Erwachsenen mit sich selbst beschäftigt waren. Wir wurden allein gelassen, etwa mit Nazischlägertypen und rechter Ignoranz ihrer stillen Mitläufer. Aber wir wurden auch in Ruhe gelassen und konnten uns ausprobieren. Dass von heute auf morgen alles anders sein kann, sich alles ständig verschieben und verändert kann, ist ein bleibender Eindruck. Es ist nicht ungesund, so heranzugehen. Die Unzuverlässigkeit von Dingen, die Gesellschaft betreffen.
Und Sprache als nichts, was sicher ist.

Ulrike Almut Sandig - Gedicht
Ulrike Almut Sandig - Gedicht - Ulrike Almut Sandig ist Thomas-Kling-Poetik-Dozentin an der Universität Bonn © Sascha Conrad
Screenshot "Anleitung zum Lachen"
Screenshot "Anleitung zum Lachen" - Ein Screenshot aus "Anleitung zum Lachen © Ulrike Sandig
Screenshot "Anleitung zum Lachen"
Screenshot "Anleitung zum Lachen" © Ulrike Almut Sandig
Screenshot "Anleitung zum Lachen"
Screenshot "Anleitung zum Lachen" © Ulrike Almut Sandig
Ulrike Almut Sandig
Ulrike Almut Sandig © Michael Aust, Villa Concordia

Mit der Berufung der Dichterin Ulrike Almut Sandig feiert die Thomas-Kling-Poetikdozentur der Universität Bonn im Sommersemester 2021 ihr zehnjähriges Jubiläum. Als einer ihrer literarischen Förderschwerpunkte wurde die Dozentur im Jahr 2011 von der Kunststiftung NRW eingerichtet und wird seitdem Jahr für Jahr an namhafte Autorinnen und Autoren vergeben.

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