Professor Kießling, Ihre Forschungsstudie über die Geschichte der Bundesanwaltschaft wurde jetzt in Karlsruhe beim Generalbundesanwalt vorgestellt. Bilden diese gut 600 Seiten „Staatsschutz im Kalten Krieg“ die erste Studie zur Geschichte der Bundesanwaltschaft überhaupt?
Die Bundesanwaltschaft ist natürlich immer auch Thema in übergreifenden Arbeiten zur bundesdeutschen Justizgeschichte, aber unser Buch ist tatsächlich die erste selbstständige Studie zur Geschichte dieser Behörde. Warum die erst jetzt erscheint, ist schwer zu sagen. Die systematische wissenschaftliche Aufarbeitung der NS-Kontinuitäten von Bundesbehörden hat erst in den 2000er Jahren begonnen. Viele Wirtschaftsunternehmen waren schneller. Dort gab es immerhin seit den frühen 1990er Jahren entsprechende Arbeiten.
Was führte dann dazu, die Forschungsarbeit aufzunehmen?
Mein Ko-Autor Christoph Safferling und ich hatten uns schon zuvor mit ähnlichen Studien beschäftigt. Herr Safferling zum Bundesjustizministerium, in meinem Fall ging es um das Bundeslandwirtschaftsministerium und die NS-Vergangenheit. Der Generalbundesanwalt hat uns dann Ende 2017 mit einer Studie zur Geschichte der Bundesanwaltschaft und insbesondere ihrem Verhältnis zur NS-Zeit beauftragt.
Ist die Studie eine Auftragsstudie? Was unterscheidet eine solche Studie von der ansonsten intrinsisch motivierten Forschungsarbeit?
Die bundesdeutsche "Nachgeschichte" des Nationalsozialismus, wie HistorikerInnen das häufig nennen, wäre auch ohne Auftrag ein wichtiges Forschungsfeld der Zeitgeschichte. Bei Methoden und Arbeitstechniken gibt es ebenfalls keine Unterschiede. Wichtig ist natürlich, die Frage der Veröffentlichung der Ergebnisse im Vorfeld zu klären und inhaltliche Eingriffe durch die Auftraggeber auszuschließen. Das haben wir getan. Zudem hatten wir den vollen Aktenzugang. Wir konnten also alle relevanten Unterlagen einsehen.
Wie groß war Ihr Forscher-Team?
Wir waren insgesamt fünf Forscherinnen und Forscher. Die Hauptaufgabe bestand für uns alle darin, die umfangreichen Archivbestände auszuwerten. Dazu haben wir zu fünft etwa zwei Jahre gebraucht. Es ging um Personalakten genauso wie um Sachakten zu Themen wie Links- und Rechtsextremismus in der frühen Bundesrepublik oder um Prozessakten. Da sind auch damals schon Berge von Akten entstanden.
Was war die größte Überraschung im Forschungsprozess?
Vielleicht nicht wirklich überraschend, aber für mich ist immer wieder bemerkenswert, wie geräuschlos und vor allem auch wie schnell sich die staatlichen Funktionsträger 1933 in den Nationalsozialismus eingefügt haben. Das gilt auch für die allermeisten Juristen, die doch in der Weimarer Republik und auch schon im Kaiserreich rechtsstaatlich trainiert waren und die auch stolz auf diese Tradition des deutschen Rechtsstaats waren. Bei ganz vielen von ihnen ist nach der NS-"Machtergreifung" bereits nach Monaten, ja manchmal nach Wochen von solchen Prinzipien nichts mehr zu spüren. Nach 1945 haben dann dieselben Leute beteuert, dass im "Dritten Reich" zwischen der NS-Justiz einerseits und der "normalen" Justiz andererseits, die weitgehend wie zuvor gearbeitet habe, unterschieden werden konnte. Das war bei vielen eine reine Schutzbehauptung, andere haben vermutlich sogar selbst daran geglaubt.
Im Ergebnis sah man, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nach 1945 in der Justiz keinen Erneuerungsbedarf. Auch viele Bundesanwälte haben sich nach Gründung der Bundesrepublik ganz offen zur Tradition der bis 1945 bestehenden Reichsanwaltschaft bekannt. Dass selbst in einem so sensiblen Bereich wie dem politischen Strafrecht das Bewusstsein für einen Neuanfang so gering war, ist dann doch erstaunlich.
Unangenehm überrascht hat uns die Pandemie. Im Frühjahr waren plötzlich auch alle Archive geschlossen und ohne die können HistorikerInnen nun einmal nicht arbeiten. Manche Archivrecherchen mussten wir um fast ein Jahr verschieben.
Sehen Sie, dass vermeintlich ausgeforschte Fakten und Kontexte durch Ihre Forschungsarbeit neu eingeordnet werden müssten?
Bei der Spiegel-Affäre 1962-1966 können wir u.a. durch die Auswertung von bisher als "geheim" eingestuften Dokumente zeigen, dass die Rolle der Bundesanwaltschaft deutlich größer war, als bislang vermutet worden ist. Auch die Bundesregierung, einschließlich Bundeskanzler Ludwig Erhard, griff am Ende noch einmal in die Affäre ein. Das war bisher ebenso nicht bekannt. Andere Befunde bestätigen eher Ergebnisse der jüngeren Forschung: Etwa, wie lange staatliche Behörden brauchten, um sich an die gesellschaftliche Öffnung und Liberalisierung der 1960er Jahre anzupassen.
Führt die Studie zu weiteren Folge-Studien?
Wir konnten in unserer Studie bei weitem nicht alle großen Hochverrats- oder Landesverratsverfahren berücksichtigen. Auch die Geschichte der RAF-Prozesse müsste über 1974 hinaus aus der Sicht der Bundesanwaltschaft weitererzählt werden. Da schlummern im Einzelnen noch viele unausgewertete Aktenbestände im Archiv des Generalbundesanwalts in Karlsruhe bzw. im Bundesarchiv in Koblenz.
Ein Desiderat ist auch die Geschichte der juristischen Verfolgung des bundesdeutschen Rechtsextremismus. Das haben wir uns bis in die zweite Hälfte der 1960er Jahre angesehen. Hier wäre allerdings für die 1970er und 80er Jahre - durchaus auch mit Blick auf heute - noch viel Arbeit zu leisten.
Folgestudien gibt es insofern, als im Moment ähnliche Forschungsprojekte für den Bundesgerichtshof, das Bundesverfassungsgericht oder auch das Bundesarbeitsgericht in Vorbereitung sind. Es ist also zu erwarten, dass in ein paar Jahren unsere Kenntnisse zu der frühen Geschichte der Bundesjustiz noch einmal deutlich umfangreicher sein werden. Ich bin jedenfalls auf diese Ergebnisse schon sehr gespannt.
Der Verlag schreibt, Ihr Werk beantworte die Frage, wie "eine Demokratie den Staat schützen kann, ohne die eigenen Werte zu verraten".
Diese Formulierung ist natürlich verkürzt, das grundsätzliche Problem dahinter ist für uns aber ganz wichtig. Die entscheidende Frage bei Gründung der Bundesanwaltschaft 1950 war, wie ein demokratischer Staatsschutz nach der NS-Terrorjustiz aufgebaut werden konnte. Dabei ging es zum Beispiel um die Frage, was das eigentliche "Schutzgut" des Staatsschutzes ist. Sind es vor allem die staatlichen Institutionen und ihre Repräsentanten, die geschützt werden müssen, oder muss es nicht darüber hinaus darum gehen, die demokratische Grundordnung und ihre Werte wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit oder Persönlichkeitsrechte zu bewahren.
In der Spiegel-Affäre der 1960er Jahre ging es in der Abwägung zwischen Pressefreiheit auf der einen Seite und dem Geheimhaltungsbedürfnis staatlicher Institutionen auf der anderen Seite genau um diesen Aspekt. Ein anderes Beispiel ist der frühe Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Den äußeren Bestand der Bundesrepublik gefährdete dieser wohl nicht, die Werte der demokratischen Grundordnung aber schon. Der SPD-Politiker Adolf Arndt hat es einmal so formuliert: In der bundesdeutschen Demokratie könne sich das politische Strafrecht nicht mehr auf den Bestand des Staates beschränken, vielmehr ginge es darum, die "Bundesrepublik Deutschland [...] in ihrer Verfassung zu schützen".
Die Bundesanwaltschaft hat sich mit einem solchen Staatsschutzkonzept, das über den Schutz der Institutionen hinausging, bis in die 1970er Jahre hinein sehr schwer getan. Im Grunde sind das aber Fragen, die uns - etwa bei der Abwehr terroristischer Bedrohungen - bis heute beschäftigen.
Vielen Dank, Herr Prof. Kießling.
Friedrich Kießling, Christoph Safferling,
Staatsschutz im Kalten Krieg. Die Bundesanwaltschaft zwischen NS-Vergangenheit, Spiegel-Affäre und RAF
München 2021, dtv, 608 Seiten, € 34,-