Der Fund ist vergleichbar mit einem Sechser im Lotto – nicht nur, weil er so gut wie vollständig ist: Die Knochen lagen bei ihrer Bergung noch fast exakt so wie zu dem Zeitpunkt, als das Tier vor 70 Millionen Jahren seinen letzten Atemzug getan hatte.
Afrika und Südamerika bildeten damals den riesigen Südkontinent Gondwana. Im Gegensatz zu seinem nördlichen Gegenstück Laurasia (aus dem unter anderem Europa und Asien hervorgingen) sind dort bislang nur wenige Säugetier-Fossilien entdeckt worden. Und nun das: ein komplettes Skelett, bei dem sogar nicht verknöcherte Teile noch vorhanden waren, etwa die knorpeligen Fortsätze der Rippen. „Ein absoluter Glücksfall“, urteilt Dr. Julia Schultz vom Institut für Geowissenschaften der Universität Bonn.
Schultz gilt als Spezialistin für fossile Säuger-Zähne. Und die verraten viel über die Entstehungsgeschichte ihrer verblichenen Besitzer. Zusammen mit dem inzwischen emeritierten Paläontologen Prof. Dr. Wighart von Koenigswald von der Universität Bonn hat sie daher Zahnschmelz-Proben des Tieres unter die Lupe genommen. „Unsere elektronenmikroskopischen Aufnahmen zeigen, dass der Schmelz relativ einfach aufgebaut war“, sagt sie. „Das betrifft sowohl die Anordnung der einzelnen Schmelzkristalle als auch das dazwischen liegende Trägermaterial, in dem sie eingebettet sind.“
Erstaunlich modern waren hingegen die Ohren des Tieres, genauer: seine so genannten Gehörschnecken. Bei frühen Säugetieren waren sie in der Regel gestreckt, wie ein Reagenzglas. Im Laufe der Evolution wickelten sich diese mehr und mehr zu einer schneckenhausartig gedrehten Form auf. Dadurch verbesserte sich unter anderem die Wahrnehmung verschiedener Frequenzen. „In unserem Fossil beschreibt die Gehörschnecke bereits deutlich mehr als eine halbe Windung“, erklärt Schultz. „Das passt eigentlich gar nicht zum primitiven Aufbau des Zahnschmelzes.“
Rätselhafte Diskrepanzen
Auch an anderen Punkten sind die Forscher auf solche rätselhaften Diskrepanzen gestoßen. Es scheint fast, als wäre das Tier ein Mosaik aus einfachen und erstaunlich weit entwickelten Merkmalen, wie es sich sonst in der Familie der Säuger nirgendwo findet. Als Grund vermuten die Paläontologen eine geographische Besonderheit: Ursprünglich war Madagaskar mit Gondwana verschmolzen. Vor etwa 88 Millionen Jahren brach die Landmasse aber aufgrund der Plattentektonik von dem Südkontinent ab. Die Tiere, die dort damals existierten, konnten sich danach also unbeeinflusst von den Gegebenheiten auf dem afrikanischen Festland entwickeln.
Auf Inseln entstehen im Laufe der Zeit oft spezielle ökologische Nischen, die ihrerseits spezialisierte Anpassungen erfordern. Ein Beispiel ist die bei isoliert lebenden Dinosauriern beobachtete „Verzwergung“, als deren möglicher Grund die Abwesenheit von Fressfeinden und Nahrungs-Konkurrenten gesehen wird. Das madagassische Säugetierfossil zeigt dagegen das entgegengesetzte Phänomen – es ist relativ groß, vergleichbar mit einer heutigen Hauskatze. Die meisten damals lebenden Säugetiere waren dagegen viel kleiner, ungefähr wie eine Maus oder Ratte. Auch das gilt als Resultat der Isolation, denn sehr kleine Tiere tendieren in der Abgeschiedenheit dazu, deutlich größer zu werden als ihre Cousins auf dem Festland. Wirklich bewiesen ist die These der „Insel-Evolution“ noch nicht; die aktuellen Befunde geben ihr jedoch weiteren Auftrieb.
„Die ungewöhnliche Kombination primitiver und fortschrittlicher Merkmale hat uns viele Rätsel aufgegeben“, resümiert Dr. Julia Schultz; „das kann ich ohne Übertreibung sagen.“ Davon zeugt auch die Bezeichnung des frühen Säugers: Die Forscher haben ihn auf den Namen Adalatherium hui getauft. Das „hui“ verdankt er einem seiner Mitentdecker, dem inzwischen verstorbenen Yaoming Hu. Adalatherium dagegen bedeutet „verrücktes Biest“.
Publikation: David W. Krause, Simone Hoffmann, Yaoming Hu, John R. Wible, Guillermo W. Rougier, E. Christopher Kirk, Joseph R. Groenke, Raymond R. Rogers, James B. Rossie, Julia A. Schultz, Alistair R. Evans, Wighart von Koenigswald & Lydia J. Rahantarisoa: Skeleton of Cretaceous mammal from Madagascar reflects long-term insularity; Nature; DOI: 10.1038/s41586-020-2234-8
Kontakt:
Dr. Julia Schultz
Institut für Geowissenschaften
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