Die Geschichte von Wilhelm Joest ist die eines Forschungsreisenden, der in der privilegierten Lage war, schon als junger Mann alle Kontinente zu bereisen und sein ethnologisches Hobby zum Beruf zu machen. Anstelle einer chronologischen Anordnung hat Haeming für die Biografie Joests einen themen- und objektorientierten Zugang gewählt. Er ermöglicht es ihr, Widersprüche und Grenzüberschreitungen in Joests bzw. im kolonial geprägten Denken und Handeln der Zeit aufzudecken und zu kommentieren. Diesen Zugang unterstreicht sie mit ihrer transparenten Schreibart, indem sie beispielsweise kolonial konnotierte Wörter durch Streichungen in originalen Textauszügen markiert. Ein wichtiges Thema bei der Diskussion wird daher die Frage zur Repräsentation von Joests Leben, d.h. zum Prozess und der Legitimation des Biografieschreibens sein.
Auch auf weitere Widersprüche und Abhängigkeitsverhältnisse wird Anne Haeming im Gespräch mit den Gastgeberinnen des BCDSS, Pia Wiegmink und Jennifer Leetsch, näher eingehen. So waren Joests Leben und Werk untrennbar mit dem Rheinland verbunden – und damit mit den kolonialen Handelsnetzen des 19. Jahrhunderts. Seine ethnografischen Forschungen, Reisen, Sammlungen und Schriften wurden durch den Reichtum seiner Familie ermöglicht, den Gründern von Stahlwaren- und Zuckerfabriken zwischen Solingen und Köln. Beides Industrien, die aus dem Handel mit Kolonialunternehmen und Plantagenbesitzern in Südamerika hervorgegangen waren.
Doch die Geschichte von Wilhelm Joest ist vor allem eine Geschichte der boomenden Berliner Wissenschaft um den Gründervater der modernen Ethnologie, Adolf Bastian. Joests Sammlungsobjekte sowie Reise- und Forschungsberichte, die er regelmäßig ans Berliner Museum für Völkerkunde, dem heutigen Humboldt Forum, schickte, haben die deutsche Ethnologie mitgeprägt. Es geht also bei der Frage der Abhängigkeitsstrukturen auch um die Verankerung der deutschen Wissenschaft in kolonialem Denken und kolonialen Handelsstrukturen.
Zur Autorin
Anne Haeming ist Schriftstellerin und Journalistin mit einem besonderen Interesse an den Geisteswissenschaften. Ihre Biografie über Joest entstand im Rahmen ihres Forschungsprojekts „Wilhelm Joest und die Intimitäten kolonialen Sammelns“ am Rautenstrauch-Joest-Museum (2021-2023). Gleichzeitig gab sie zusammen mit Carl Deußen eine kritisch kommentierte Anthologie mit Originaltexten von ihm heraus („Aus Indien nach Santa Cruz durch die Ethnologie. Fragmente des Forschungsreisenden Wilhelm Joest“). Beide Bücher sind 2023 im Verlag Matthes & Seitz erschienen. Ebenfalls im Jahr 2023 organisierte Anne Haeming eine internationale Konferenz zum Thema "Imperial Lives: Biographische Ansätze als dekoloniale Praxis", bei der neue kreative und interdisziplinäre Formen des biographischen Erzählens in Forschung und Literatur thematisiert wurden. Sie promovierte in postkolonialer Literatur, arbeitet für die Gedenkstätte „Friedhof der Märzgefallenen“ in Berlin (den Revolutionen von 1848 und 1918 gewidmet) und absolviert derzeit ein Masterstudium in Provenienzforschung an der Technischen Universität Berlin.
Der Exzellenzcluster Bonn Center for Dependency and Slavery Studies (BCDSS)
„Asymmetrische Abhängigkeit“ – mit diesem neuen Schlüsselkonzept bietet der Exzellenzcluster Bonn Center for Dependency and Slavery Studies (BCDSS) einen neuen Zugang zur Sklaverei- und Abhängigkeitsforschung. Untersucht werden alle Formen tiefer sozialer Abhängigkeiten wie Sklaverei, Leibeigenschaft, Schuldknechtschaft sowie weitere Formen permanenter Abhängigkeiten. Dabei ist der Blick offen für alle Epochen, Regionen und Kulturen sowie alle Schattierungen zwischen „frei“ und „unfrei“. Mit seiner erweiterten Perspektive öffnet der Exzellenzcluster die Abhängigkeitsforschung für ganz neue transkulturelle Perspektiven und Vergleiche.