Welche Probleme entstehen für die Angehörigen von schwerstkranken Menschen in der Corona-Krise?
Renate Kunz: Die meisten Menschen, deren Familienmitglied in der aktuellen Pandemie aufgrund einer schweren Erkrankung in einer Klinik behandelt wird, können nicht so anwesend und hilfreich sein, wie sie es wünschen und brauchen. Denn sobald ein nahestehender Mensch krank und hilfsbedürftig wird, entsteht unser Impuls, für ihn da zu sein, Trost zu spenden, sein Leid zu mindern und ihn zu beschützen – und umso mehr, je schwerer die Krankheit ist und je weniger der geliebte Mensch für sich selber sorgen und sprechen kann. Dieses Verhalten gibt aber auch dem Angehörigen eine gewisse, eigene Stabilisierung. Er fühlt sich nicht mehr ganz so ohnmächtig und hilflos. Daher zeichnen sich die Intensivstationen an unserem Klinikum in „Nicht-Corona -Zeiten“ dadurch aus, dass es offene Besuchszeiten gibt.
Doch aktuell ist eine Nähe in den überaus existenziellen Krankenhaussituationen nicht in üblicher Weise möglich; weder für den Patienten, der sich nach seinen vertrauten, ihm Sicherheit vermittelnden Bezugspersonen sehnt, noch für den Angehörigen, der dies erfüllen möchte und zudem diese Präsenz auch als eigene, seelische Kraftquelle benötigt. Die Notwendigkeit von Infektionsschutzmaßnahmen in der Corona-Krise verstehen und akzeptieren die meisten Patienten und Angehörigen. Diejenigen Patienten allerdings, die unter kognitiven Einschränkungen leiden, viele alte oder durch ein Handikap eingeschränkte Menschen, können nicht verstehen, warum sie keinen oder kaum Besuch bekommen. Sie fühlen sich allein gelassen, einsam, bestraft und traurig. Der Angehörige weiß dies und erlebt große Sorgen bis hin zur Verzweiflung. Er fühlt sich schuldig und versagend, erlebt ein quälendes ethisches Dilemma, das er nicht lösen kann.
Wie wirken sich die Kontaktbeschränkungen auf die Bewältigung von Trauer aus?
Renate Kunz: Das Fehlen der Abschiedszeit, in der sich in einem individuell gestalteten Prozess voneinander verabschiedet und auf den Tod vorbereitet wird, erschwert den Trauerprozess der zurückbleibenden Angehörigen. Manche können die von außen auferlegten Bedingungen der Besuchseinschränkungen so einordnen, dass sie die Verantwortung für ihre fehlende Begleitung abgeben können. Viele jedoch fühlen sich schuldig gegenüber dem Verstorbenen, obwohl sie wissen, dass sie nicht anders handeln durften. Sie schämen sich für ihr „Versagen“ und entwickeln belastende Phantasien über die Einsamkeit und die Sterbesituation ihres Familienmitgliedes, verlieren sich in Grübeleien und Selbstvorwürfen. Einige tragen Ärger, Wut und Enttäuschung in sich und wissen nicht, wohin mit diesen Gefühlen. Der Trauernde leidet unter innerer Anspannung und diffusem Stress. Der Trauerprozess wird erschwert und kompliziert, psychosomatische Erkrankungen können folgen. Das ist ein Grund, warum an unserem Klinikum palliative Patienten von ihren engsten Bezugspersonen besucht werden dürfen und so den Menschen Begegnung und Verabschiedung ermöglicht wird.
Wie wird die Möglichkeit der Beratungsgespräche von Angehörigen angenommen und wie sehen Sie ihre Rolle?
Renate Kunz: Der Beratungsbedarf hat sich derzeit bei bis zu drei Gesprächen pro Woche eingependelt. Die Angehörigen zeigen sich dankbar für das Angebot und erleben es als entlastend „sich alles einmal von der Seele reden zu können“. Sie fühlen sich ernstgenommen und als individuelle Person in der sehr schweren Situation gewürdigt. Die Betroffenen schildern ausführlich ihre Verzweiflung, Ängste und Ohnmacht und beklagen die Unlösbarkeit der Problematik. Ihre Gedanken kreisen um die Befindlichkeit des Patienten, der alleine sein muss.
Für mich als Beraterin stehen einfühlsames Zuhören und ein nicht bewertendes Erfassen der Erlebenswelt des Hilfesuchenden im Vordergrund. Es geht also nicht um die Beschwichtigung der Klage und Beruhigung des Gegenübers und auch eher selten um das Finden konkreter Hilfsangebote; wie den Ersatz-Kontakt über digitale Medien, einen Besuch am Fenster, regelmäßige Telefonate mit dem Behandlungsteam. Im Gegenteil, lösungsorientierte Interventionen bergen die Gefahr, dass der Angehörige sich mit der Größe seines psychischen Schmerzes und der erlebten Ausweglosigkeit seines Problems nicht verstanden und angenommen fühlt. Darum ist es wichtig, erst wenn diese Bedürfnisse erfüllt sind, meist gegen Ende des Gespräches zu erfragen, ob versucht werden soll, eine Alternative zum Besuchsverbot zu finden.“
Renate Kunz gehört zu dem 2012 auf Initiative der Pflegedirektion eingeführten Advanced Practice Nurse (APN)-Team. Das sind examinierte Pflegekräfte, die sich darüber hinaus hochschulisch qualifiziert haben. Renate Kunz hat einen postgradualen Masterabschluss in psychosozialer Beratung. Die Pflegeexpertin steht von Montag bis Freitag zwischen 10 Uhr und 16 Uhr unter renate.kunz@ukbonn.de oder 0151 440 48460 Angehörigen für Entlastungs- und Beratungsgespräche zur Verfügung. Wichtig ist, dass ausschließlich die Situation der Angehörigen behandelt werden kann. Auskünfte zum Gesundheitszustand der Patienten sind nicht möglich.
Vertreter der Medien sind eingeladen, Fragen an Renate Kunz zu stellen, die gerne für ein Gespräch zur Verfügung steht:
Renate Kunz (APN)
Counseling MA
Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Universitätsklinikum Bonn
Telefon: 0228-287 31500
Mobil: 0151 440 484 60
E-Mail: Renate.Kunz@ukbonn.de