Jedes Ding hat zwei Seiten. Diese Redewendung lässt sich auf die Bonner Kalksteintafel des Ägyptischen Museums mit der Signatur BoSAe 2113 im wörtlichen und im übertragenen Sinne anwenden. Denn beide Seiten der wahrscheinlich weit über 3000 Jahre alten Tafel sind höchst unterschiedlich gestaltet. Sie verweisen genau dadurch aufeinander, ergeben also erst in der Gesamtbetrachtung eine wissenschaftlich befriedigende Antwort auf die mögliche Nutzung dieses Gegenstandes.
„Die Doppelseitigkeit der kleinen Stele ist bekannt gewesen“, erklärt Prof. Dr. Ludwig Morenz von der Ägyptologie der Universität Bonn, der auch Mitglied im Exzellenzcluster Bonn Center for Dependency and Slavery Studies (BCDSS) und im Transdisziplinären Forschungsbereich „Present Pasts“ der Universität Bonn ist. Doch erst im Rahmen des BMBF-Verbundprojekts „SiSi“ („Sinnüberschuss und Sinnreduktion von, durch und mit Objekten. Materialität von Kulturtechniken zur Bewältigung von Außergewöhnlichem“) sei es ihm gelungen, eine neue Dimension im Sakralgehalt der Kalksteintafel im Kontext der Fragestellung nach dem menschlichen Umgang mit Krisen zu erschließen.
Der umgedrehte Löwenkopf
Es handle sich bei der Stele um eine Art Votivgabe, erzählt Morenz. Professor Alfred Wiedemann, Gründungsvater der Bonner Ägyptologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, hat die Steintafel einst in Luxor, dem früheren Theben, erworben. Daher ist sie kunsthistorisch und religionswissenschaftlich gut einzuordnen. Das Relief auf der eher glatten Vorderseite der Kalksteintafel ist fein und detailreich gearbeitet. Ästhetisch betrachtet ist es die „Schokoladenseite“ der Tafel.
Rekonstruiert man die bruchstückhafte Abbildung, dann ergibt sich die Darstellung der altägyptischen Götter Amun und Chons sowie eine auf sie zugehende Königsfigur. Dieser opfernde Pharao übernimmt die Rolle eines Beters und Vermittlers zwischen den Gottheiten und den Menschen. “Die Annahme, dass es sich hier um ein religiöses Objekt handelt, wird dadurch gestützt. Zumal eine solche Gott-König-Szene für das Zeitalter, aus dem die Steintafel stammt, typisch ist”, erklärt Morenz.
Doch ein Detail machte ihn bei näherer Betrachtung stutzig: Bei der Darstellung handelt es sich zwar augenscheinlich um die thebanische Götter-Triade Amun, Mut und Chons, aber die Göttin Mut fehlt: „In der Regel werden die drei Götter zusammen als Familie abgebildet“, erklärt Morenz. Die offenkundige, ja geradezu gewollte Lücke in der Darstellung habe ihn irritiert. Darauf bezieht sich auch der Titel der Publikation: “Wo bleibt Mut?” Antwort darauf gibt die genauere Betrachtung der rauen Rückseite, den auch hier finden sich Abbildungen: drei markant herausgearbeitete menschliche Ohren und ein um 180 Grad gedrehter und deutlich größerer Löwenkopf sind eindeutig zu erkennen.
Der Löwenkopf symbolisiert in der ägyptischen Götterwelt die Göttin Mut. „Mut übernimmt die göttliche Mutterrolle“, erklärt der Ägyptologe ihre Bedeutung. Sie stehe für eine Art kraftvoller Aggressivität, aber das durchaus in einem guten Sinne: „Mut verkörpert Kraft und Stärke und wird daher oft zum Schutz angerufen.“ Deutet man den Löwenkopf also als Göttin Mut, dann ist die Götterfamilie wieder vollständig. Die Vorstellung einer Anrufung oder eines Dialogs zwischen Mensch und Gott wird zudem durch die drei Ohren verstärkt. Ihre Anzahl korrespondiert mit der Götter-Triade und auf religionswissenschaftlicher Ebene auch mit der umseitigen Darstellung des Pharaos als Mittler.
Ausdruck privater Frömmigkeit
All das sind starke Hinweise für die Gott-Mensch-Beziehung, die auf dieser Steintafel ihren Ausdruck findet. Faszinierend ist für den Ägyptologen dabei vor allem das Zusammenspiel zwischen offizieller Religion (Vorderseite) und persönlicher Frömmigkeit beziehungsweise privater Religion (Rückseite). Denn in Zeiten großer Not und Krisen zur Göttin Mut zu beten, um ihr Gehör und um ihren Beistand zu bitten, ist für Morenz sehr plausibel. Für die Universität Bonn ist es eine erfreuliche Entdeckung: Denn mit dieser Steintafel besitzt sie laut Morenz ein „Masterpiece“, dessen genauere Objektlektüre eine sehr gute Vorstellung davon vermittelt, wie Menschen im Alten Ägypten mit Krisen umgegangen sind.