26. März 2020

Virale Kopplungen – Gesellschaft im Überlebenskampf Lebenszeichen: Virale Kopplungen – Gesellschaft im Überlebenskampf

Ein „Lebenszeichen“ des Soziologen Prof. Dr. Clemens Albrecht

Wie wirkt sich das Corona-Virus auf die Verfasstheit unserer Gesellschaft aus? Das fragt sich Kultursoziologe Prof. Dr. Clemens Albrecht in seinem Beitrag zur Serie „Lebenszeichen – Wir bleiben im Gespräch“. Seine These: Wir brauchen künftig weniger Weltgesellschaft und wieder mehr traditionelle Gesellschaften.

Prof. Dr. Clemens Albrecht
Prof. Dr. Clemens Albrecht - Lebenszeichen aus der Kultursoziologie © Foto: Barbara Frommann/Uni Bonn
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Text: Prof. Dr. Clemens Albrecht

Ein winziges Virus hat unsere Gesellschaft verändert, wie wir es uns nicht vorstellen konnten. Leere Straßen, stillgelegte Unternehmen, die Landebahnen der internationalen Flughäfen zugeparkt mit Flugzeugen, die niemanden mehr von einem Kontinent in den anderen bringen. Shutdown – wie der Zauberspruch einer Eisprinzessin liegt dieses Wort über der Erde und friert das globale Leben ein, wie noch nie in der Geschichte des Menschen.

Um begreifen zu können, was hier vor sich geht, muss man verstehen, wie die moderne Gesellschaft funktioniert. Denn das, was hier gefährdet ist, sind nicht nur die Leben von tausenden Individuen, sondern die Gesellschaft als Ganzes.

Organische Solidarität

Moderne Gesellschaften sind funktional differenziert, d.h. sie bilden spezifische Subsysteme aus, die eine je eigene Funktion haben: Die Politik muss Entscheidungen treffen, die für alle verbindlich sind, die Wissenschaft Erkenntnisse finden, die andere als Wahrheit anerkennen, das Recht die Fülle an Handlungsmöglichkeiten auf rechtmäßige begrenzen. Funktionssysteme sind in sich geschlossen, sie beziehen sich in ihrer internen Kommunikation nur auf sich. Informationen, die von außen kommen, irritieren das System und werden intern in systemeigene Kommunikation umgewandelt, die binären Codes folgt: Die Regierung ist an der mit Macht, die Opposition nicht, eine wissenschaftliche Erklärung ist wahr, eine veraltete ist falsch, eine Handlung war rechtmäßig, eine andere widersprach dem Gesetz.

Die Verbindung zwischen den Systemen geschieht durch „strukturelle Kopplungen“ (Niklas Luhmann), Informationskanäle, durch die Systeme ihre Umwelt systemspezifisch wahrnehmen und die Irritationen in interne Kommunikation umwandeln. Wenn Ökonomen etwa zu einer Erkenntnis kommen und der Überzeugung sind, dass die Politik handeln muss, wird diese Erkenntnis im politischen System sofort zur Machtfrage umgewandelt, indem sie der Regierung dazu dient, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, der Opposition aber, die Regierung anzugreifen. Das Paradoxe ist, dass jedes System, indem es ‚egozentrisch‘ nur sich selbst reproduziert, gerade dadurch dem Ganzen am besten dient, indem es spezifische Funktionen bereitstellt. Nur indem die Politik eine wissenschaftliche Erkenntnis nicht unter dem Gesichtspunkt der Wahrheit, sondern als Machtfrage behandelt, kann sie ihre spezifische Funktion erfüllen. Die gesellschaftlichen Teilsysteme stehen also zueinander, wie die Organe in einem Körper: Sie sind verschieden, aber gerade deshalb arbeitsteilig umso enger miteinander verbunden. Der Soziologe Emile Durkheim hat hierfür den Begriff der „organischen Solidarität“ gefunden.

Virale Störungen

Gegenwärtig aber können wir eine andere Art der Umweltkommunikation beobachten: virale Kopplungen schleusen Informationen in ein System ein, die nicht intern so umgewandelt werden können, dass sie dem Erhalt des Systems dienen. Zuerst geschieht das im Körper der Infizierten, wo die Lungenfunktion lahmgelegt wird. Die pure Menge der schwer Erkrankten bringt wiederum das medizinische System an seine Grenzen. Es hat die Funktion, nach der Leitunterscheidung krank/gesund den Individuen ihr Überleben zu sichern – nach Stand der medizinischen Behandlungsmöglichkeiten.

Sobald die Kliniken jedoch in eine Situation geraten, in der sie nicht mehr genug Behandlungsplätze für die Erkrankten bereithalten, müssen sie anders, ‚medizinfremd‘ entscheiden, welche Patienten aufgenommen werden. Das gefürchtete Wort heißt „Triage“ und stammt aus der Katastrophenmedizin: Alter, Überlebenschancen, Nützlichkeit für die Gesellschaft spielen nun als Kriterien eine Rolle. Ärzte sind in ihrer Ausbildung auf solche Entscheidungen kaum vorbereitet, und gerade weil dieser Kriterienkatalog offen ist, nicht in der professionellen Praxis verankert, schleichen sich Unsicherheiten ein, die bei den Entscheidenden individuell zu enormen Belastungen führen: Sie als Personen entscheiden über Leben oder Tod, nicht eine gesellschaftlich verankerte Norm. Wenn das ökonomische System geradezu darauf ausgerichtet ist, mit Knappheit umzugehen und sie über den Preis zu regeln, ist in der Medizin durch existentielle Knappheit nicht nur eine einzelne Organisation betroffen, sei es Kreiskrankenhaus oder Universitätsklinik, sondern es kollabiert mit der enttäuschten Erwartung der Kranken und ihrer Angehörigen auf Behandlung die Funktion des medizinischen Systems.

Enttäuschte gesellschaftliche Erwartungen aber sind selbst endemisch: Das Virus wandert weiter zum nächsten Funktionssystem. Die Empörung wendet sich sofort gegen die Politik mit dem Vorwurf, nicht die nötigen Entscheidungen getroffen zu haben, damit das medizinische System auch unter Stress seine Funktion wahrnehmen kann: Ihr habt die Medizin kaputtgespart! Die Politik wird unglaubwürdig, sie verliert ihre Legitimität, ihre Entscheidungen werden nicht mehr akzeptiert – es sei denn, die Opposition kommt an die Macht, schiebt die Schuld für vergangene Entscheidungen auf die alte Regierung und trifft andere Entscheidungen.

Ist dies nicht der Fall, frisst sich das Virus durch alle Funktionssysteme und legt sie lahm: Die Politik wird zur reinen Exekutive, die nur noch durchsetzt, die Wirtschaft stellt die Zahlungen ein, die Justiz orientiert sich am Notstandsrecht und wird politisch gleichgeschaltet. Auch die Wissenschaft verliert dann ihre Autonomie, indem Wahrheitsfragen im Dienst der Politik beantwortet werden und nicht mehr mit ihrer eigenen Logik die Politik irritieren, der Logik des Elfenbeinturms.

Mit der viralen Kopplung zwischen Systemen steht also nicht nur irgendein Teilbereich der Gesellschaft in der Krise, sondern das funktionale Differenzierungsniveau insgesamt. Virale Kopplungen sorgen dafür, dass sich die Funktionen mechanisch ineinander verhaken und gegenseitig blockieren, wie wenn eine Schraube in ein Getriebe gerät. Gesellschaften sinken dann herab auf „mechanische Solidarität“ (Emile Durkheim), auf segmentäre Differenzierungsformen. Es ist kein Zufall, dass sich in der gegenwärtigen Lage alle Staaten voneinander abschotten, die Verbindungen kappen, dass sich die Menschen in kleine und kleinste Gemeinschaften zurückziehen, die plötzlich wieder Schicksale verbinden, indem die Partylust des Enkels für den Großvater zur Lebensbedrohung wird.

Die Moderne kennt solche Situationen, die aber bislang nicht durch eine Pandemie, sondern durch Kriege herbeigeführt wurden. Am Ende des Zweiten Weltkrieges waren die großen gesellschaftlichen Ordnungssysteme kollabiert, das Besatzungsrecht der Siegermächte wurde als Willkür erlebt. In dieser Zeit der sozialen Unsicherheit, der Gefährdung eines jeden durch einen jeden, schufen die kleinen Gemeinschaften erst stabilere Grundlagen für die Lebensordnungen. Es war die große Stunde der Familien, der Nachbarschaften und der Kirchengemeinden, die segmentär die Alltagsnormen soweit stabilisierten, dass sich allmählich wieder ein funktionales Differenzierungsniveau herstellen konnte.

Ähnlich heute. Es ist nicht die Stunde der internationalen Organisationen, der Staatenverbünde und der multinationalen Verträge, sondern jede handlungsfähige politische Einheit, d.h. in der Regel: jeder Staat muss zunächst einmal schauen, dass er sich selbst stabilisiert, indem er durch Isolation segmentärer Einheiten die Ausbreitung des Virus zurückdrängt. Erst wenn dies geschehen ist, kann Stück um Stück die internationale Arbeitsteilung zurückkehren. Der Shutdown ist ein kontrollierter Rückbau der Gesellschaft auf segmentäre Differenzierung, eine Impfung, die durch die kleine Krankheit der Gesellschaft der großen lebensbedrohlichen vorbeugen möchte.

Damit zeigt sich aber auch: In Krisen braucht die funktional differenzierte Weltgesellschaft die segmentären Ordnungen der Nationen, der Staaten, der Nachbarschaften und der Familien, die latent immer darunterliegen. Soziale Ordnungen, die zwischen Individuum und Weltgesellschaft nichts mehr kennen, keine Gemeinschaften und keine intermediären Institutionen in ihrer irrationalen Geschichtlichkeit, die alles wegmodernisiert haben, was ihnen dysfunktional erschien, haben dann keine Rückfallpositionen, auf denen sie sich stabilisieren können.

Was folgt?

Was aber können wir in der Zwischenzeit außerdem tun? So paradox es klingt: In den Elfenbeinturm der Wissenschaft zurückkehren. Wir können uns fragen, wie wir das Virus in Forschungsfragen transferieren, es als produktive Irritation für das Wissenschaftssystem nutzen. Denn erst wenn Unternehmen anfangen, mit der Krise Geld zu verdienen, wenn die Politik die Krise als Ressource für ihre Machtkämpfe nutzt und wenn die Medizin Behandlungserfolge nachweisen und sich selbst dadurch ausbauen kann – erst dann haben wir zumindest diese Krise überwunden.

Einfach weiter dann mit dem alten System? Ich meine, dann müssen wir neu darüber nachdenken, wieviel funktionale Differenzierung, wieviel Weltgesellschaft wir uns leisten können. Ist der globale Massentourismus ein erhaltenswertes Gut? Brauchen wir wirklich einen globalen Markt für Grundnahrungsmittel? Sollten wir nicht auf einige Effizienzgewinne in der Arbeitsteilung verzichten und die Mobilität von Kapital, Gütern und Personen begrenzen? Abstrakt formuliert: brauchen wir weniger Gesellschaft, mehr Gesellschaften?

Denn die moderne Gesellschaft wird zwar durch Differenzierung nach innen immer stabiler und kann ungeheuren Mengen an Irritationen verarbeiten, ist jedoch als Ganzes umso schneller in Gefahr, wenn ihre Umwelt, die Natur, grundlegend andere Voraussetzungen liefert. In der Alltagssprache nennen wir das „Katastrophen“. Die moderne Weltgesellschaft ist ein solch künstliches Gebilde, dass sie durch Katastrophen viel schneller in ihrer grundlegenden Ordnung gefährdet ist als traditionale Gesellschaften, gerade weil alles mit allem durch Arbeitsteilung zusammenhängt.

Denn wenn auch das Corona-Virus künftig als normales Alltagsrisiko in der funktionalen Differenzierung „eingepreist“ sein mag – die nächste globale Katastrophe wird kommen, wir wissen nur noch nicht, ob als Asteroid, als Vulkanausbruch, als Schuldenkrise oder als Emergenzsprung des Klimas – oder als eine weitere Pandemiewelle, die auf einen Schlag alles vernichtet, was wir durch die Globalisierung an Wohlstand aufgebaut haben. Durch klugen Verzicht lässt sich hier ein wenig vorsorgen.


Prof. Dr. Clemens Albrecht

Prof. Dr. Clemens Albrecht (Jahrgang 1959) ist seit Oktober 2015 Co-Direktor des Käthe-Hamburger Kollegs „Recht als Kultur“ an der Universität Bonn und hat seit April 2016 den Lehrstuhl für Kultursoziologie am Institut für Politische Wissenschaften und Soziologie inne. Er ist geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift „Sociologia internationalis“.


Lebenszeichen – Wir bleiben im Gespräch

Unter dem Titel „Lebenszeichen – Wir bleiben im Gespräch!“ veröffentlicht die Universität Bonn Beiträge aus den Reihen ihrer Angehörigen, die unter dem Eindruck der Bekämpfung des Coronavirus und der daraus resultierenden Bedingungen entstanden sind. Sie will damit auch in schwierigen Zeiten den Diskurs aufrechterhalten und die universitäre Gemeinschaft stärken. In loser Folge erscheinen dazu auf dieser Website Beiträge von Universitätsangehörigen, die das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten, Dialoge in Gang setzen, Tipps und Denkanstöße austauschen wollen. Wer dazu beitragen möchte, wendet sich bitte an das Dezernat für Hochschulkommunikation, kommunikation@uni-bonn.de.

 

Prof. Dr. Clemens Albrecht
Prof. Dr. Clemens Albrecht - Lebenszeichen aus der Kultursoziologie © Foto: Barbara Frommann/Uni Bonn
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