„Während die Hippies des vergangenen Jahrhunderts rund um die Uhr nach ihren eigenen Regeln und Idealen lebten, haben die Bobos den Arbeitsrhythmus der kapitalistischen Umwelt übernommen und genießen ihren wohlverdienten Feierabend vom Selbst- und Weltverbessern“, sagt die Seminarteilnehmerin und Autorin Susanne Bell. „Nach Feierabend haben Bobos kein Problem damit, sich mit einer Tüte Chips Netflix-Serien reinzuziehen“, ergänzt der Kultursoziologe Prof. Dr. Clemens Albrecht von der Universität Bonn, der das Phänomen zusammen mit den Studierenden untersucht hat.
Mit autoethnographischen Methoden betrachteten die Seminarteilnehmer in einer Art Nabelschau ihr eigenes Milieu – mit der nötigen wissenschaftlichen Distanz. Zum Beispiel zum Thema Liebe: „Auch in Beziehungen kommt das Janusgesichtige der Bobos zum Vorschein“, sagt Nora Bechheim. Sie predigen libertäre Ideologien, zum Beispiel dass Polyamorie völlig in Ordnung sei. In ihren Beziehungen bevorzugen sie aber eindeutig die klassische Monogamie, um ihrem Bedürfnis nach Sicherheit gerecht zu werden.
Es hat einen Grund, warum Bobos auf dem Land kaum zu finden, sondern Großstädter sind: Dort konzentriert sich das Bildungsbürgertum, dort finden innovativen Umbrüche statt und dort lässt sich Geld mit neuen Ideen verdienen. So gründeten sich zum Beispiel um die Jahrtausendwende in den großen Städten zahlreiche Startups im IT-Sektor. Mit Apps zur Musikerkennung oder Computerspielen ließ sich auf unkonventionelle Weise Einkommen generieren.
Aus Bobos wurden Unternehmer
Für solche neuen Geschäftsideen gab es Wagniskapital, aus Bobos wurden Unternehmer. Waren die Startups erfolgreich, wurden sie mit Gewinn verkauft und es entwickelte sich ein eigenes Establishment. „Der Weg von der Avantgarde über den Bobo zum Bürgertum war damit ein Stück weit vorgezeichnet“, fasst Albrecht diese urbane Entwicklung in den westlichen Gesellschaften zusammen.
„Bobos profitieren vom Status quo des Systems“, ist Julian Hemmerich überzeugt. Als Gruppe mit hohem kulturellen und mindestens perspektivisch höherem ökonomischen Kapital würden vor allem diversitäre und ökologische Ideale propagiert – jedoch nur selten ökonomische, die den Altruismus der eigenen Position in Frage stellen und die Ideale so delegitimieren könnten. „Authentizität und bobokonformer Individualismus spielen eine wichtige Rolle“, sagt Anna Hörter. Bobos wollten so, wie sie auftreten, auch wahrgenommen werden: als Personen und nicht auf Herkunft, Studienfach oder Job reduziert, ergänzt Philipp Lehmann.
Fast erscheint die Lebensweise der Bobos wie ein immer wiederkehrender Zyklus: Als Avantgarde entdeckt die urbane Elite neue Lebensformen, zum Beispiel in den 1990er Jahren den Veganismus. „Damals galt diese Ernährungsweise noch als vom Mainstream abweichendes Verhalten, das Ökologie und Tierwohl im Blick hatte“, sagt Albrecht. Daraus resultierten Geschäftsmodelle: vom veganen Kochbuch über vegane Geschäfte bis hin zu veganen Restaurants.
Inzwischen fordern Politiker Veggie Days, einen Fastentag für Fleisch in den Großküchen als gesellschaftliche Konvention. Albrecht: „Moralisierung des eigenen Lebensstils ist der erste Grad der Verspießerung.“ Währenddessen kommt es in der Bobo-Bewegung zu einer neuen Avantgarde: das Upcycling – scheinbar Nutzloses wird für einen neuen Zweck wiederverwertet, zum Beispiel Handtaschen aus verschlissenen Jeanshosen.
„Die Ökologie-Ideologeme der Bobos variieren zwischen kritischem Konsum von Bio-, Regio- oder Fairtrade-Produkten und dem romantischen Traum des Selbstversorgertums“, fasst Philipp Jakobs zusammen. Der verwirkliche sich weniger in den Entbehrungen einer autonomen Landkommune als in der Schrebergartenidylle mit Gemüse- und Kräuterbeet bis hin zu einem subjektiven Gesundheits- und Wohlbefindensstreben, durch welches der eigene Vegetarismus oder Veganismus wahlweise begründet oder aufgegeben werden könne.
Forschungsnahe Lehre im besten Sinn
Für die Studierenden aus ganz verschiedenen Fächern – von der Soziologie über die Politikwissenschaft bis hin zum Lehramt – bot das Seminar die Möglichkeit, Bobos anhand der eigenen Lebenswirklichkeit zu erforschen und Selbsterkenntnis zu gewinnen. An vielen Abenden trafen sie sich, um gemeinsam einen Aufsatz für das „Soziologie Magazin“ zu verfassen. „Das einzigartige Seminar ist forschungsnahe Lehre im besten Sinn“, sagt Albrecht. „Die Studierenden hatten die Möglichkeit, eigenständig Forschung voranzutreiben, Erkenntnisse – auch über sich selbst – zu gewinnen und in einem Journal zu publizieren.
Publikation: Clemens Albrecht, Nora Bechheim, Susanne Bell, Julian Hemmerich, Anna Hörter, Philipp Jakobs, Philipp Lehmann, Corvin Rick, Sabine Sieverding: Wir Bobos. Zur Autoethnographie eines Sozialtyps, Soziologie Magazin, DOI: 10.5281/zenodo.3695330
Kontakt:
Prof. Dr. Clemens Albrecht
Kultursoziologie
Käte Hamburger Kolleg „Recht als Kultur“
Universität Bonn
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