Auf dem Hochplateau von Serabit el Chadim auf der Sinai-Halbinsel kreuzten sich im zweiten Jahrtausend v. Chr. die Wege der Altägypter und der Kananäer. Die Ägypter hatten dort seit etwa 1920 v.Chr. einen großen Tempel errichtet, den größten außerhalb des Niltals mit einer Bau- und Nutzungszeit von 1000 Jahren. Die Kanaanäer beuteten auf diesem Plateau Kupfer und Türkis aus, mit dem sie handelten. „Aufgrund dieser interkulturellen Kontaktzone sind dort besonders viele Schriftzeichen zu finden“, berichtet der Ägyptologe Prof. Dr. Ludwig Morenz von der Universität Bonn. Die Kanaanäer ahmten die komplexen Schriftzeichen der Altägypter in stark vereinfachter Weise nach. Statt hunderter Hieroglyphen nutzten die Kanaanäer nur etwa 24 Zeichen für ihre auf Konsonanten basierte Lautschrift. Damit war der Vorläufer der Alphabetschrift geboren – aufgrund ihrer Übersichtlichkeit ein bis heute genutztes Erfolgsmodell der menschlichen Kommunikation.
Haben die Kanaanäer auch die Götterwelt vereinfacht? Dieser Frage geht Morenz in seiner neuesten Publikation aufgrund der Schriftzeichen nach. Während die Ägypter in ihrem Tempel mehreren Gottheiten huldigten, waren es in den benachbarten Minen der Kanaanäer (sowie im Kultraum der Kanaanäer im ägyptischen Tempel) nur zwei Gottheiten: der männliche „El“ und die weibliche „Bacalat“. Von den ägyptischen Gottheiten stachen für die Kanaanäer in Serabit besonders die Lokalgöttin und „Herrin des Türkises“ Hathor und der göttliche Repräsentant der Residenz, Ptah, hervor. Diese Gottheiten tauchen besonders häufig in den Hieroglypheninschriften auf der Hochebene auf.
„Die Kanaanäer haben deshalb wahrscheinlich Hathor und Ptah als das dominierende Götterpaar im Reigen der Götter – wenn nicht sogar die einzigen Götter – verstanden“, sagt Morenz. In dieser Vereinfachung der ägyptischen Götterwelt kam es noch zu einer weiteren Simplifizierung: Der alte semitische Allgemeinbegriff „Gott“ wurde zum Personenbegriff „El“ als konkreter Götterperson umgeprägt. Belege für diese These fand der Ägyptologe der Universität Bonn in den alphabetischen Inschriften und Bildern der Kanaanäer in Serabit, die immer wieder auf „El“ als zentraler Göttergestalt hinweisen. Für El war dementsprechend in einem Minenkomplex sogar ein spezifischer Sakralort gestaltet.
„Diese Verehrung war noch kein Monotheismus, es handelt sich vielmehr um eine Etappe auf dem Weg dazu“, sagt Morenz. El und Bacalat wurden nebeneinander verehrt, und wohl zunächst als Götterpaar. Dabei wurde offenbar der allgemeine Gottesbegriff „el“ zum personalen Gott „El“ geprägt – der dann Jahrhunderte danach seine monotheistische Karriere machte. „In Serabit kamen durch die Reduktion von vielen Göttern auf nur zwei und die Transformation des allgemeinen Götterbegriffs (el) zur konkreten Götterperson (El) zwei Vorstellungen mit langer Folgewirkung dazu“, fasst der Ägyptologe zusammen.
„So erweist sich der Gott El im mittelbronzezeitlichen Serabit el Chadim als ein Kernpunkt sakralen Denkens sowie, eng damit verbunden, bildlichen und schriftlichen Darstellens“, so Morenz. Diese Denk- und Vorstellungswelt der Kanaanäer dürfte dann Fernwirkungen auf andere Religionen gehabt haben, wie etwa die Hebräische Bibel oder den Koran. „Diese Perspektive könnte ganz ähnlich wie die Alphabetschrift der Kanaanäer auch noch weiter bis in unsere Gegenwart und Zukunft wirken“, sagt Morenz, der auch Mitglied im Transdisziplinären Forschungsbereich „Present Pasts“ an der Universität Bonn ist. Der Nutzen dieser Vereinfachung habe sich vermutlich nicht auf den ersten Blick gezeigt. Wahrscheinlich hätten sich erst Generationen später die Vorteile der „evolution of simplicity“ erwiesen, nach der sich auf die lange Dauer die eingängigsten und geradlinigsten Ideen durchsetzen, so der Wissenschaftler.