Atome, die aus einem positiv geladenen Kern und negativ geladenen Elektronen bestehen, bilden stabile Objekte. Kern und Elektronen ziehen sich an und sind auf diese Weise verbunden. Was bei den Atomen funktioniert, kann auch durch das Zusammenspiel vieler Teilchen klappen: Bei Festkörpern, die bei Raumtemperatur im festen Zustand vorliegen, werden die einzelnen Moleküle durch Bindungskräfte in bestimmten Lagen gehalten. Dies sorgt dafür, dass der Festkörper „in Form“ bleibt und nicht herumschwappt wie etwa eine Flüssigkeit. Ein Beispiel dafür ist etwa Kochsalz (Natriumchlorid), das als Kristall vorliegt. Die positiv geladenen Natrium-Ionen und die negativ geladenen Chlorid-Ionen ziehen sich an.
Vor diesem Hintergrund wirkt überraschend, dass auch durch abstoßende Kräfte stabile Objekte gebildet werden können. „In diesem Fall kommt es zur Bindung, da das komplexe Objekt hoch angeregt ist und seine Energie nicht abbauen kann“, sagt Prof. Dr. Corinna Kollath von der Theoretischen Quantenphysik der Universität Bonn. Da das gebundene Objekt seine Energie nicht senken kann, verhindern seine Bestandteile die Trennung. Dieser Mechanismus kommt nur vor, wenn das Objekt kaum Energie mit seiner Umgebung austauschen kann.
„In Festkörpern, die aus vielen Bestandteilen wie Elektronen und Kernen bestehen, galt als unmöglich, eine ausreichende Isolierung zu erreichen, um abstoßend gebundene Zustände zu erreichen“, sagt Corinna Kollath, die auch Mitglied im Transdisziplinären Forschungsbereich „Matter“ und im Exzellenzcluster „ML4Q“ an der Universität Bonn ist. Ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung der Physikerin hat nun eine spezielle Verbindung entdeckt, in der dieser exotische hochangeregte Quantenzustand der Materie zu beobachten ist: BaCo2V2O8.
Die Forschenden nutzten Terahertz-Lichtwellen, um die Spins der Elektronen dieser Verbindung anzuregen. Der Spin ist der Eigendrehimpuls von Teilchen. Dabei war BaCo2V2O8 in einem extrem hohen Magnetfeld von bis zu 60 Tesla eingeschlossen. Ergebnis: Zusätzlich zu der niederenergetisch magnetischen Quasiteilchenanregung – dem Magnon – wurden auch Zwei-Magnon- und Drei-Magnon-Zustände als hochenergetische Anregungen identifiziert.
Beim Magnon handelt es sich um ein Quasiteilchen, das vereinfacht gesagt als ein entgegengesetzter Spin auf dem Hintergrund von ausgerichteten Spins verstanden werden kann. Die Umkehrung des Spins wird durch die Terahertz-Lichtwellen erzeugt. Die gebundenen Zwei-Magnonen und Drei-Magnonen-Zustände sind dann entsprechend 2 oder 3 dieser entgegengesetzten Spins, die durch die abstoßende Wechselwirkung zusammengehalten werden. Die Forschenden der Universität Bonn haben die experimentellen Daten analysiert und dabei die gebundenen Zustände identifiziert und charakterisiert.
„Die Studie ist der erste prinzipielle Beweis dafür, dass abstoßend gebundene Zustände in einem Festkörpersystem beobachtet werden können“, sagt Corinna Kollath. Es sei noch grundlegende Forschung erforderlich, um zu verstehen, wie sich diese exotischen Zustände in komplexeren Quantensystemen bilden. Nach Einschätzung der Autorinnen und Autoren wird auch die Erforschung der potenziellen Anwendung für die Quanteninformation noch Jahre dauern.