Die Gerandete Steinfliege (Perla marginata) führt ein “Doppelleben”: Die ersten Jahre verbringt sie als Larve in hiesigen Bächen. Sie verfügt über Kiemen und versteckt sich gerne unter Steinen in Fließgewässern, um von dort aus andere Insektenlarven zu erbeuten. “Dieses Stadium dient vor allem dazu, Energie aufzunehmen und zu wachsen”, sagt Doktorand Peter Rühr vom Institut für Evolutionsbiologie und Zooökologie der Universität Bonn. Nach mehreren Häutungen kommt es schließlich zur Verwandlung (Metamorphose) in die erwachsenen Exemplare, die ausschließlich an Land leben. Sie halten sich überwiegend am Ufer auf und fliegen eigentümlich schwerfällig umher, um Paarungspartner zu finden. Sie verfügen noch über Mundwerkzeuge, in ihrem aber nur rund zweiwöchigen Dasein nehmen sie jedoch kaum Nahrung auf. “Sie leben hauptsächlich von den Reservestoffen aus ihrem Larvenstadium”, fügt Rühr hinzu.
Unterschiedliche Lebensstadien ermöglichen Einnischung
Welche Bedeutung hat die Metamorphose für die Bildung neuer Spezies? Inwieweit hängen die unterschiedlichen Lebensstadien zusammen? “Diese Fragen sind zum Beispiel bei den Schmetterlingen gut untersucht”, sagt der Evolutionsbiologe Prof. Dr. Alexander Blanke von der Universität Bonn. “Nach gängiger Meinung sind die Lebensphasen durch die Metamorphose `entkoppelt´, was eine bessere Anpassung an unterschiedliche Lebensräume ermöglicht - bis hin zur Entkoppelung von Nahrungsaufnahme und Fortpflanzung.” Für Steinfliegen bedeutet dies vor allem Fressen als Larve im Bach und Paarung im Erwachsenenstadium an Land.
Doch so entkoppelt die unterschiedlichen Lebensphasen scheinen, sind sie nicht bei allen Tiergruppen, die eine Metamorphose durchlaufen. Die Zoologen der Universität Bonn untersuchten zahlreiche Steinfliegenarten und verglichen sie mit ihren nächsten Verwandten, den Ohrwürmern. “Wir haben diese beiden Tiergruppen ausgewählt, weil sie nahe verwandt sind, aber sehr unterschiedliche Lebensweisen zeigen”, erläutert Blanke. Im Gegensatz zu Steinfliegen leben die Ohrwürmer ausschließlich an Land und durchlaufen viele nahezu gleich aussehende Mini-Stadien.
Mit Hilfe der Teilchenbeschleuniger (Synchrotrons) des Karlsruher Instituts für Technologie, des Deutsches Elektronen-Synchrotrons in Hamburg und des Paul Scherrer Instituts in Villigen (Schweiz) durchleuchteten die Forschenden insgesamt 219 Ohrwürmer- und Steinfliegenspezies. Die Synchrotronstrahlung war das Mittel der Wahl, weil sie schnelle Scans im Minutentakt ermöglicht und auch kleinste Details der winzigen Insekten sehr gut darstellt. Die Aufnahmen rechneten die Wissenschaftler zu hochaufgelösten dreidimensionalen digitalen Modellen um.
Vergleich mit fast 1000 wissenschaftlichen Publikationen
Die Forscher charakterisierten die Form der Köpfe und Mundwerkzeuge und verglichen sie mit Daten zu Fressverhalten und Habitatnutzung aus fast 1000 wissenschaftlichen Publikationen. Dabei konnten die Forschenden feststellen, dass der Wechsel vom Larven- zum Erwachsenenstadium bei Steinfliegen nicht mit einer ausgeprägten Entkopplung der beiden Stadien einhergeht. “Die Kopfform der erwachsenen Steinfliegen wird stark durch die Larven beeinflusst”, fasst Rühr zusammen. “Die Lebensweise der Jungtiere bestimmt also das Aussehen der Erwachsenen.”
Das relativiert eine gängige These der Evolutionsforschung, dass die Metamorphose zu einer Entkopplung unterschiedlicher Lebensphasen führt beziehungsweise diese begünstigt. “Bei den Schmetterlingen trifft dies zwar zu, bei den Steinfliegen jedoch nicht”, sagt Blanke. “Eine abgestuftere Betrachtung des Prinzips Metamorphose für die verschiedenen Organismengruppen wäre ratsam.” Es kommt auch dann zur Anpassung an völlig unterschiedliche Lebensräume während der Lebensphasen, wenn die einzelnen Entwicklungsstadien sich deutlicher ähneln als bei den Schmetterlingen. Blanke: “Die Studie beleuchtet erstmals, wie stark aufeinanderfolgende Lebensstadien bei Insekten ohne Puppenstadium gekoppelt sind.”
Förderung:
Die Studie wurde durch den Europäischen Forschungsrat (ERC) und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Publikation: Peter T Rühr, Thomas van de Kamp, Tomáš Faragó, Jörg U Hammel, Fabian Wilde, Elena Borisova, Carina Edel, Melina Frenzel, Tilo Baumbach and Alexander Blanke: Juvenile ecology drives adult morphology in two insect orders, Proceedings B, DOI: https://doi.org/10.1098/rspb.2021.0616
Kontakt für die Medien:
Peter Rühr
Institut für Evolutionsbiologie und Zooökologie
Universität Bonn
Tel. 0228/735115
E-Mail: peter.ruehr@gmail.com
Prof. Dr. Alexander Blanke
Institut für Evolutionsbiologie und Zooökologie
Universität Bonn
Tel. 0228/735130
E-Mail: blanke@uni-bonn.de