An der Universität Bonn wird Paul Basu ein „Global Heritage Lab“ einrichten, in dem er und sein Team mit dekolonialen Ansätzen in der Kulturerbe-Forschung experimentieren. Das geschieht vor dem Hintergrund, dass auch die Wissenschaft bis heute von kolonialen Strukturen geprägt ist und westliche Erkenntnistheorien um verschiedene Wissensformen erweitert werden müssen. „Unser Ziel ist es, zu erforschen, welche Lehren wir aus der Vergangenheit ziehen können, wenn wir uns mit den drängenden Fragen unserer Zeit auseinandersetzen und versuchen, uns eine nachhaltigere und gerechtere Zukunft für den Planeten vorzustellen“, sagt Prof. Dr. Paul Basu.
Forschung über den Tellerrand hinaus
Sein übergreifender Ansatz fügt sich nahtlos ein in das Konzept der sechs Transdisziplinären Forschungsbereiche (Transdisciplinary Research Areas, TRA), welche die Exzellenzuniversität Bonn vor mehr als zwei Jahren eingerichtet hat. Denn: Große gesellschaftliche Herausforderungen und die damit zusammenhängenden komplexen Fragen kann keine wissenschaftliche Disziplin allein beantworten. Herzstück des Konzepts sind die nach dem Bonner Physiker Heinrich Hertz (1857-1894) benannten Professuren. Sie werden mit renommierten Forschenden besetzt, die in ihrem jeweiligen Fachgebiet führend sind und das Profil der Transdisziplinären Forschungsbereiche schärfen. Dafür erhalten sie 4,2 Millionen Euro für sieben Jahre.
„Mit Paul Basu ist es uns gelungen, einen herausragenden und weltweit renommierten Forscher für den Hertz-Chair im Transdisziplinären Forschungsbereich ‚Present Pasts‘ zu rekrutieren“, sagt Rektor Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Hoch. „Das von ihm entwickelte Global Heritage Lab wird einen experimentellen Raum an der Universität Bonn bilden, in dem innovative Forschung und Lehre an der Schnittstelle zwischen Anthropologie, Museum Studies und Design unter Einbeziehung der universitären Museen und Sammlungen zusammenfließen und in die Gesellschaft transferiert werden.“
Paul Basu bringt anthropologische und geschichtswissenschaftlich orientierte Forschung in den Diskurs mit Disziplinen, die ihren Blickwinkel auf eine nachhaltige Zukunft richten. „Die einzelnen akademischen Disziplinen haben für mich nach wie vor eine hohe Bedeutung“, sagt er. „Gleichzeitig können sie zu einem hochgradig künstlichen – und potenziell gefährlichen – Verständnis der Welt führen. Wir müssen uns auf komplexe Wissensökologien einlassen, die auch über die an den Universitäten privilegierten Wissensarten hinausgehen. Das macht die Universität von morgen aus.“
Reise in die Vergangenheit bringt neue Zukunftsmöglichkeiten
Paul Basus regionaler Schwerpunkt lag in den vergangenen 20 Jahren in Westafrika. Um historische Materialien und Kenntnisse, die in europäischen Institutionen verwahrt werden, wieder zugänglich zu machen, arbeitete er intensiv mit Museumssammlungen und Archiven – oftmals unter Einbezug lokaler Gemeinschaften.
Die neue Professur ist ein wichtiger Baustein des Forschungsschwerpunkts Heritage. Darin hinterfragen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter anderem koloniale Machtverhältnisse, indem sie nicht nur die Herkunft von Sammlungen untersuchen, sondern auch deren „Affordanzen“, also das, was Sammlungen an Potenzial für kollaborative Forschung anbieten. So soll ein neuer Umgang mit und ein neues Verständnis von Heritage – dem Erbe – entwickelt werden.
„Die häufig lediglich behauptete Dekolonisierung von Museumssammlungen und westlichen Erkenntnistheorien verspricht so, in eine Forschungspraxis überführt zu werden, die auf vielfältigen globalen und lokalen Beziehungen beruht und von einem Wissensbegriff ausgeht, der nicht-westliche Expertise einschließt“, sagt Prof. Dr. Karoline Noack, Sprecherin des Transdisziplinären Forschungsbereichs „Present Pasts“ der Universität Bonn.
Für das Global Heritage Lab hat Basu bewusst den Titel „Labor“ gewählt: „Ich denke, wir sollten bescheidener mit dem umgehen, was wir zu wissen glauben, und der Begriff ,Labor‘ versucht, diese Vorläufigkeit zu artikulieren“, betont er. „Wir schaffen einen Raum zum Experimentieren, zum Ausprobieren, zum Andersdenken.“ Ziel ist es, auch Personengruppen außerhalb der Universität teilhaben zu lassen.
Darüber hinaus verstärkt er den Transdisziplinären Forschungsbereich durch eine neue zeitliche Dimension, die er „Mögliche Zukünfte“ nennt. Basu: „Die ökologische Katastrophe, die wir endlich ernst zu nehmen beginnen, ist ein Erbe der vorherrschenden Formen des Verständnisses und der Ausbeutung der Ressourcen des Planeten.“ Welche alternativen Möglichkeiten, in der Welt zu sein und sie zu kennen, wurden in dieser Geschichte der Ausbeutung zum Schweigen gebracht und zur ,Vergangenheit‘ erklärt? Welche alternative Zukunft könnten wir uns für den Planeten vorstellen, wenn wir diese marginalisierten Kenntnisse berücksichtigen und eine 'pluralistischere' Perspektive einnehmen? Dies sind die Fragen, denen Basu in den kommenden Monaten und Jahren nachgehen will.
Zur Person:
Paul Basu studierte in London Kommunikationsdesign und Sozialanthropologie und promovierte anschließend in Anthropologie am University College London. Als Spezialist für kulturelles Erbe hatte er zuvor bereits Professuren an der SOAS University of London und am University College London inne. Seine Arbeit erhielt internationale Anerkennung durch verschiedene Auszeichnungen, hochrangige wissenschaftliche Publikationen und Forschungsförderungen. Er erhielt einen „Heritage Fund“ der National Lottery des Vereinigten Königreichs für Projekte im Dialog mit der Öffentlichkeit und war Principal Investigator in großen Verbundprojekten – unter anderem gefördert durch den UK-Forschungsrat Arts and Humanities Research Council (AHRC) und die EU. Zuletzt leitete er das erfolgreiche AHRC-Projekt „Museum Affordances / [Re:]Entanglements“. Es befasste sich mit einem großen ethnografischen Archiv, das der Kolonialanthropologe N. W. Thomas Anfang des 20. Jahrhunderts in Südnigeria und Sierra Leone zusammentrug. Ziel des Projekts war es, nicht nur den historischen Kontext, in dem die Materialien gesammelt wurden, besser zu verstehen, sondern auch ihre Bedeutung in der Gegenwart neu zu überdenken.