Vor rund 120 Jahren wurde eine auf den ersten Blick eher unscheinbare Steintafel von Prof. Dr. Alfred Wiedemann (1856–1936) im ägyptischen Theben erworben. Damals vom Gründungsvater der Bonner Ägyptologie als „Vorlage für eine Stele“ angesehen, galt sie bis vor kurzem als einfaches Bildhauerlehrstück, inventarisiert als Kalksteinrelief BoSAe 2113. Wiedemann selbst beschreibt es und vermerkt neben anderem „auf der ungeglätteten Rückseite zwei kleine Ohren“. Neue Aufmerksamkeit erfuhr das Objekt jetzt durch Forschungen im BMBF-geförderten Verbundprojekt „Sinnüberschuss und Sinnreduktion von, durch und mit Objekten. Materialität von Kulturtechniken zur Bewältigung von Außergewöhnlichem“ (SiSi).
Die Steintafel ist offenbar weit mehr als ein Entwurf oder Lehr- und Übungsstück, wie die Arbeit von Prof. Dr. Ludwig Morenz und Dr. Frank Förster jetzt zeigt. Das rund 3200 Jahre alte Artefakt ist ein Meisterstück. Es kann und muss offenbar als doppelgesichtige Steintafel sowohl von der Vorder- als auch von der Rückseite aus „gelesen“ werden. Beide Seiten nehmen aufeinander Bezug und sind als zusammengehörige, sich ergänzende Teile zu verstehen. Die glatte Vorderseite mit einer typischen Szene der Anbetung von Göttern ist offenbar der Sphäre der formalen „offiziellen Religion“ gewidmet; die rauh belassene Rückseite hingegen bringt eine stärker „private“ Religion oder persönliche Frömmigkeit mit mehr Flexibilität und Individualität zum Ausdruck. Ein der Nachwelt unbekannt bleibender Mensch thematisiert hier seine persönliche Nähe zu einer Gottheit.
Es geht um die Göttin Mut. Sie war Teil der Götterdreiheit von Theben, der sog. Thebanischen Triade, bestehend aus Amun, Mut und Chons. Aber Mut fehlt auf der „offiziellen“ Vorderseite. Auf der „privaten“ Rückseite der Steintafel taucht die Göttin in ungewöhnlicher Form auf und vervollständigt auf diese Weise die Triade: Sie erscheint in Gestalt eines Löwenkopfes, in dessen Nähe drei kleine menschliche Ohren ausgearbeitet wurden. Sowohl den Löwenkopf als auch das dritte Ohr hatte Wiedemann damals übersehen. Die Ohren stehen für das göttliche Erhören der persönlichen Bitten und Gebete des nicht bekannten Bildhauers oder Stifters.
Ausgehend von diesem Objekt beleuchtet die Sonderausstellung noch bis zum 17. Juli 2022 im Ägyptischen Museum der Uni Bonn das Verhältnis von offizieller und privater Religion im pharaonischen Ägypten.
Quelle:
Frank Förster, Vom Bildhauerentwurf zum Masterpiece. Sonderausstellung zu einer Neuentdeckung im Altbestand der Bonner Sammlung von Aegyptica, in: aMun. Magazin für die Freunde ägyptischer Museen und Sammlungen, 24. Jg., Heft 64, Ausgabe 1/2022, S. 4-18
Ansprechpartner:
Dr. Frank Förster, Kurator
Ägyptisches Museum der Universität Bonn
Tel. 0228-73-9710
E-Mail: aegyptisches-museum@uni-bonn.de