Mal angenommen, jemand zeigt uns das Foto eines Streichquartetts. Wir sollen sagen, wie viele Personen darauf abgebildet sind. Um sie zu zählen, reicht die Zeit nicht aus. Dennoch kommt unsere Antwort wie aus der Pistole geschossen: „Vier!“ Nächster Versuch, nun mit einem Septett, auf das wir ebenfalls nur einen kurzen Blick erhaschen können. Wir zögern etwas, dann, nicht ganz so selbstbewusst: „Acht.“ Tatsächlich sind es sieben, doch immerhin lagen wir nahe dran.
Wir Menschen zeigen bei der Verarbeitung von Mengen eine charakteristische Zweiteilung: Kleine Anzahlen erfassen wir sehr rasch und in der Regel korrekt. In der Forschung spricht man auch von „Subitizing“. Ab einer Grenze von etwa fünf Elementen ändert sich das plötzlich: Wir benötigen für unsere Antwort zunehmend länger und werden immer unpräziser.
Manche Forscherinnen und Forscher vermuten daher, dass es im Gehirn zwei unterschiedliche Verarbeitungs-Mechanismen gibt - einen präzisen für kleine Mengen und einen Schätz-Mechanismus für große. „Bislang war das aber umstritten“, erklärt Prof. Dr. Dr. Florian Mormann von der Klinik für Epileptologie des Universitätsklinikums Bonn, der an der Universität Bonn forscht. „Es könnte schließlich auch sein, dass unser Gehirn immer schätzt, die Fehler bei kleinen Mengen aber so gering sind, dass das einfach nicht auffällt.“
Neuronen für kleine Zahlen arbeiten trennschärfer
Die aktuelle Studie liefert nun allerdings tatsächlich einen Hinweis darauf, dass wir kleine und große Mengen unterschiedlich verarbeiten. Schon vor einigen Jahren konnten die beteiligten Arbeitsgruppen zeigen, dass es im Gehirn Nervenzellen gibt, die für bestimmte Anzahlen zuständig sind. Manche Neurone feuern zum Beispiel vor allem bei Zweiermengen, andere bei Vierermengen und wieder andere bei Mengen von sieben Elementen. „Die Neuronen sprechen allerdings auch auf leicht abweichende Anzahlen an“, erklärt Prof. Dr. Andreas Nieder von der Universität Tübingen, neben Mormann einer der beiden Hauptautoren der Studie. „Eine Siebener-Hirnzelle feuerte also auch bei sechs oder acht Elementen, dann aber schwächer. Noch weniger lässt sie sich durch fünf oder neun Elemente aktivieren.“
Nieder hat diesen „Numerical Distance Effect“ bereits bei Versuchen an Affen nachgewiesen. Interessanterweise scheint sich der Effekt beim Menschen aber nur bei höheren Anzahlen auszuwirken. „Für Mengen unterhalb von etwa fünf Elementen gibt es scheinbar einen zusätzlichen Verschaltungsmechanismus, der diese Neuronen präziser macht“, sagt der Neurobiologe.
Wenn etwa eine Dreier-Hirnzelle feuert, hemmt sie dadurch gleichzeitig die Zweier- und Vierer-Hirnzellen. Das senkt das Risiko, dass diese Zellen durch eine Dreiermenge fälschlicherweise miterregt werden. Bei Fünfer-, Sechser- oder Achter-Neuronen gibt es diesen Mechanismus dagegen nicht. Daher haben sie eine höhere Fehlerquote.
Einzelnen Gehirnzellen bei der Arbeit zugeschaut
Die Forschenden profitierten bei ihrer Studie von einer Besonderheit des Bonner Universitätsklinikums: Die dort angesiedelte Klinik für Epileptologie ist auf chirurgische Eingriffe im Gehirn spezialisiert. In ihnen versuchen die Ärzte, Epilepsiekranke durch eine Operation zu heilen, bei der sie das erkrankte Nervengewebe entnehmen. Um diesen Krampfherd zu lokalisieren, müssen sie dazu in manchen Fällen zunächst Elektroden ins Gehirn der Betroffenen einbringen.
An der aktuellen Studie nahmen 17 Patientinnen und Patienten teil. Ihnen allen waren zur OP-Vorbereitung haarfeine Mikroelektroden in den Schläfenlappen eingesetzt worden. „Damit konnten wir die Reaktion einzelner Nervenzellen auf visuelle Reize messen“, erläutert Esther Kutter, die für ihre Promotion einen großen Teil der Experimente in der Arbeitsgruppe von Prof. Mormann durchgeführt hat.
Dabei saßen die Versuchspersonen vor einem Computerbildschirm. Darauf erschien für eine halbe Sekunde eine unterschiedlich große Menge von Punkten. Danach mussten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer angeben, ob die Anzahl gerade oder ungerade gewesen war. Das gelang ihnen bis zu Mengen von vier Punkten sehr rasch und nahezu fehlerfrei. Danach erhöhte sich die Fehlerquote mit steigender Anzahl stetig, ebenso wie die Bedenkzeit, die sie bis zu ihrer Angabe benötigten.
Die Arbeit erlaubt neue Einblicke in die Verarbeitung von Anzahlen im menschlichen Gehirn. Langfristig könnten die Erkenntnisse zu einem besseren Verständnis der Dyskalkulie beitragen, einer Entwicklungsstörung, die durch mangelndes Zahlenverständnis gekennzeichnet ist.