Das Gehirn der Fruchtfliege ist kaum größer als der Punkt auf diesem i, besteht aber immerhin aus etwa 100.000 Nervenzellen. Im menschlichen Hirn sind es fast eine Million mal so viele. Und auch sonst sind die Unterschiede zwischen beiden Denkorganen immens – schließlich haben sich die Wege von Drosophila melanogaster (so der wissenschaftliche Artname) und Homo sapiens in der Evolution schon vor vielen hundert Millionen Jahren getrennt.
Dennoch gibt es zwischen beiden Organismen erstaunliche Parallelen. Die aktuelle Studie hat nun eine weitere davon aufgedeckt. Die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Dietmar Schmucker vom LIMES-Institut der Universität Bonn hat darin untersucht, welche Funktion bestimmte Erbanlagen der Fruchtfliege bei der Entwicklung ihres Gehirns spielen. „Wir haben dazu gezielt einzelne Gene ausgeschaltet und uns angesehen, wie sich dadurch die Nervenzellen veränderten“, erklärt Schmucker, der seit 2019 eine Humboldt-Professur in Bonn innehat. „Dabei sind wir auf eine Erbanlage namens wnk gestoßen, die eine erstaunliche Doppelrolle übernimmt.“
Wnk übernimmt eine Doppelrolle
Die entscheidende Entdeckung gelang der Erstautorin der Studie Dr. Azadeh Izadifar, Postdoktorandin in Schmuckers Arbeitsgruppe. Sie konnte zeigen, dass Wnk während der Entwicklung des Nervensystems für die Verschaltung der Neurone notwendig ist. Fällt das Gen aus, zum Beispiel durch eine experimentell herbeigeführte Mutation, dann unterbleibt die Verzweigung der sogenannten Axone. Diese Axone sind kabelartige Zellausläufer und leiten elektrische Signale an andere Nervenzellen weiter. In der Regel sind sie mit vielen verschiedenen Empfängerzellen über Synapsen verdrahtet. „Ohne Wnk-Protein fehlen funktionsfähige axonale Verzweigungen weitgehend“, betont Izadifar.
In erwachsenen Tieren scheint Wnk dagegen bereits bestehende Axone zu schützen. Wird die Erbanlage zu diesem späten Zeitpunkt ausgeschaltet, degenerieren die Verzweigungen in den erwachsenen Tieren. „Möglicherweise sind beide Funktionen zwei Seiten derselben Medaille“, vermutet Schmucker. Denn Wnk scheint Teil eines regulatorischen Netzwerks zu sein, das sowohl den Aufbau während der Entwicklung als auch den Abbau von Nervenzellverbindungen in erwachsenen Tieren steuert. Das Gen enthält die Bauanleitung für eine sogenannte Kinase. So bezeichnet man Enzyme, die bestimmte chemische Bausteine an andere Proteine „kleben“ und so deren Aktivität steuern. Die Wnk-Kinase reguliert und unterstützt einerseits einen Faktor namens Nmnat, der die Nervenzellen schützt. Andererseits hemmt sie mindestens zwei weitere Proteine namens Sarm und Axed. Von beiden weiß man, dass sie bei der aktiven Neurodegeneration von Axonen eine wichtige Rolle spielen.
Wichtige Balance zwischen Schutz und Abbau
Allerdings greift die Kinase möglicherweise nicht direkt in diese gegenläufigen Prozesse ein. Sie dreht an einer noch unbekannten Stellschraube und justiert dadurch die Balance zwischen Schutz und Abbau. Beide Vorgänge sind für die Funktion des Gehirns essentiell.
Eventuell bieten diese Ergebnisse neue Impulse für das Verständnis, wie neurodegenerative Erkrankungen im Menschen entstehen und wie man sie eventuell behandeln könnte. Denn Wnk-Kinasen existieren auch in Säugetieren – in Mäusen ebenso wie bei uns. Mehr noch: Auch wir scheinen sie für den Schutz unserer Nervenzellen essenziell zu benötigen. In diese Richtung deuten zumindest Ergebnisse einer Kollaboration mit der Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Franck Polleux an der Columbia University in New York. Die Arbeitsgruppe konnte zeigen, dass Wnk-Kinasen auch in der Maus für die Bildung axonaler Verzweigungen wichtig sind und dass ihr Verlust zur Degeneration von Axonen führt. „Es ist zudem bekannt, dass bestimmte wnk-Mutationen beim Menschen zu Nervenschädigungen führen, sogenannten peripheren Neuropathien, die mit fortschreitenden Empfindungsstörungen in den Armen und Beinen einhergehen“, erklärt Schmucker.
Vielleicht lässt sich die Wnk-Kinase im Kampf gegen neurodegenerative Erkrankungen therapeutisch nutzen – etwa, indem man sie durch einen Wirkstoff überaktiviert und so ihre Schutzfunktion für Nervenzellen stärkt, hofft Schmucker. Die Studie demonstriert zudem, welche weitreichenden Erkenntnisse sich aus einfachen Organismen wie der Fruchtfliege gewinnen lassen. Schmuckers Arbeitsgruppe setzt unterdessen noch auf ein zweites Modellsystem – den Krallenfrosch Xenopus tropicalis. Als Wirbeltier ist er dem Menschen ähnlicher als die Fliege. Zudem sind Xenopus-Kaulquappen mehr oder weniger transparent. Die Auswirkungen bestimmter Genmanipulationen auf Wachstum und Abbau von Nervenzellen lassen sich bei ihnen also im lebendigen Tier nachvollziehen.
Beteiligte Institutionen und Förderung:
Die Studie wurde aus Mitteln der Belgischen „Research Foundation – Flanders“ (FWO), der Fondation pour la Recherche Medicale (FRM) in Frankreich, der Europäischen Union im Rahmen ihrer ERC Starting Grants sowie durch die Humboldt-Stiftung, die Roger De Spoelberch Fondation und die Thompson Family Foundation Initiative gefördert. Neben der Universität Bonn waren die Katholische Universität Leuven, die Universität Lyon, die Columbia Universität New York und die Universität Tokio an den Arbeiten beteiligt.
Publikation: Azadeh Izadifar u.a.: Axon morphogenesis and maintenance require an evolutionary conserved safeguard function of Wnk kinases antagonizing Sarm and Axed; Neuron; https://doi.org/10.1016/j.neuron.2021.07.006