Alonso Chacón (1530-1599), latinisiert Alphonsus Ciacconius, war ein spanischer Antiquar und Gelehrter mit breit gefächerten Interessen. Sie reichten von den römischen Altertümern, über die Katakomben und frühchristlichen Kirchen bis zu einer Geschichte der Päpste. Da Chacón bereits wenige Jahre nach seiner Ankunft in Rom im Jahr 1567 unter Beibehaltung seiner Bezüge von allen kirchlichen Aufgaben freigestellt wurde, konnte er sich von 1574 bis zu seinem Tod im Jahr 1599 vollständig seinen antiquarischen Studien widmen.
Vielfach wird er heute als »Begründer der christlichen Archäologie« angesehen. “Dies ist aber vor allem seinem – für dieses Gebiet tatsächlich wegweisendem – Schüler Antonio Bosio (1575-1629) zu verdanken, der sich mehrfach auf Chacón beruft und ihm in seinen Schriften eine ehrende Erinnerung zuteil werden lässt”, berichtet Prof. Dr. Christiane Vorster von der Abteilung für Klassische Archäologie der Universität Bonn. Von maßgeblicher Bedeutung für den späteren Ruhm Chacóns sei seine Beteiligung bei der Erkundung und Dokumentation einer 1578 zufällig entdeckten großen Friedhofsanlage an der Via Salaria, die zunächst (irrtümlich) als Priscilla-Katakombe identifiziert worden war. Chacón ließ Zeichnungen von den Fresken erstellen, die schnell außerordentliche Bedeutung erlangten, da der Eingang zur Katakombe kurze Zeit später verschüttet wurde und diese bis zu ihrer Wiederentdeckung im Jahr 1921 nicht mehr auffindbar war.
Chacón widmete sich in der Folge verstärkt der Dokumentation von Malereien und Mosaiken in Katakomben und frühchristlichen Kirchen. “Hinter diesen Arbeiten zur frühchristlichen Archäologie und zu den frühen Kirchenbauten geriet das altertumswissenschaftliche Werk Chacóns aus dem Blick, obwohl dieser Bereich den weitaus größten Teil der Manuskripte ausmacht”, sagt Vorster. Die meisten seiner Arbeiten erschienen posthum oder blieben ungedruckt.
Die maßgeblichen Alben und Zeichnungskonvolute zu den Antiquitates befinden sich in der Biblioteca Angelica (Rom), der Biblioteca Oliveriana (Pesaro), der Biblioteca Marucelliana (Florenz) und dem Herzog Anton Ulrich-Museum (Braunschweig). “Das ›Corpus Ciacconianum‹ gehört zu den größten zusammenhängenden Corpora von Antikenzeichnungen des 16. Jahrhunderts. Sein besonderer Wert liegt in den Kommentaren, mit denen der gelehrte Antiquar rund zwei Drittel der Blätter versah und die neben der Benennung der gezeichneten Skulpturen häufig auch die Namen der Besitzer dokumentieren“, sagt Prof. Dr. Georg Satzinger vom Kunsthistorischen Institut der Universität Bonn. „Dank der Liberalität der besitzenden Institutionen, die das Material in digitalisierter Form zur Verfügung stellten, können die Manuskripte nun von verschiedenen Disziplinen gesichtet und zugeordnet werden.” Erste Ergebnisse wurden bei einem internationalen Kolloquium am Herzog Anton Ulrich-Museum in Braunschweig vorgestellt und liegen in gedruckter Form vor.
Die große Zahl kommentierter Antikenzeichnungen in den Alben des Alonso Chacón bietet neue und grundlegende Einsichten zu antiken Skulpturen und den Sammlungen des 16. Jahrhunderts. “Durch die Manuskripte erhalten wir zum ersten Mal auch Aufschluss über den Antikenbesitz einfacher Privatleute, der wahrscheinlich nicht einmal als regelrechte Sammlung organisiert war”, betont Prof. Carlo Gasparri, Mitglied der Accademia Nazionale dei Lincei, der das Projekt von Anfang an begleitet hat. Die Antiken dienten hier als inhaltlich aufgeladene Einrichtungsgegenstände, die viel über Geschmack und Selbstverständnis ihrer bürgerlichen Besitzer verraten. Die Ciacconius-Zeichnungen erlauben es, deren Provenienz bis ins 16. Jahrhundert zurückzuverfolgen, was bislang nur in Ausnahmefällen möglich war. Zugleich ermöglichen die Zeichnungen Einblicke in die Ausbildung von Künstlern im Rom der Spätrenaissance. „Alles spricht dafür, dass sich Chacón der kleinen Schülerschar eines in Rom prägenden Malers bedienen konnte, um im Rahmen von deren Ausbildungsprogramm seine umfänglichen Bestandsaufnahmen zu bewältigen“, sagt Georg Satzinger.
Für barock gehaltene Köpfe erweisen sich als antike Zeugnisse
Antike Skulpturen kamen in aller Regel nicht unbeschadet aus der Erde, sondern erlangten erst im Laufe der vergangenen Jahrhunderte durch Ergänzungen und Restaurierungen ihr heutiges Erscheinungsbild. Vorster: “Bislang können lediglich die Antikenergänzungen des 18. Jahrhunderts als hinlänglich erforscht gelten, während die Spätrenaissance in dieser Hinsicht als terra incognita gelten muss.” Durch die Zeichnungen in den Ciacconius-Alben sind erstmalig umfassende und belastbare Einblicke in das Restaurierungswesen des 16. Jahrhunderts möglich: Ergänzungen, die bislang dem bedeutendsten Antikenrestaurator des 18. Jahrhunderts, Bartolomeo Cavaceppi, zugeschrieben waren, erweisen sich nun als Arbeiten der Spätrenaissance. Bei den vermeintlichen Bildhauersignaturen des barocken Ergänzers Ippolito Buzzi handelt es sich um Inventarsigel eines Renaissancefürsten, und bislang für barock gehaltene Köpfe geben sich bei näherer Prüfung als antike Erzeugnisse zu erkennen.
Darüber hinaus eröffnen die Manuskripte neue Einblicke in Wissensordnung und Wissensorganisation im 16. Jahrhundert. Aufschlussreich ist der Nachweis zweier aufeinanderfolgender Nutzungshorizonte in den Alben. „Offenbar hat Chacón die Publikation seiner Antiquitates Romanae spätestens um 1590 aufgegeben und die freien Seiten der bereits fertig gebundenen Alben als Notizbuch verwendet“, sagt Dr. Roswitha Simons vom Institut für griechische und lateinische Philologie der Universität Bonn.
Erst in der Gesamtschau erlauben die rund 800 Zeichnungen mit ihren Kommentaren allgemeine Aussagen zu Verbreitung, Funktion und Verständnis antiker Skulpturen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. “Die Vorlage der Manuskripte zu den Antiquitates des Alphonsus Ciacconius wird unser Wissen zur Entstehung der Altertumswissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert auf eine neue Grundlage stellen”, sagt Vorster.
In Kooperation mit dem Deutschen Archäologischen Institut und dem Forschungsarchiv für Antike Plastik am Archäologischen Institut der Universität Köln werden die Zeichnungen jetzt in die Datenbank Arachne des DAI eingepflegt. Diese weltweit größte Datenbank antiker Artefakte erlaubt die vielfältige Verknüpfung von Zeichnungen und Kommentaren mit den dargestellten Objekten und den historischen Sammlungshorizonten. Der erste Teil der Ciacconius-Datensätze wurde vor kurzem freigeschaltet und ist unter https://arachne.dainst.org, Stichwort: “Ciacconius”, frei abrufbar. Die restlichen Datensätze werden im Laufe des Jahres folgen.