Bei Lippen-Kiefer-Gaumenspalten ist während der Embryonalentwicklung die Ausbildung der Mundpartie beeinträchtigt. Bislang sind mehr als 45 genetische Abschnitte bekannt, in denen häufige Risikovarianten vorkommen. “Wir fanden jetzt an zwei dieser Regionen auch eine Anreicherung von seltenen Varianten, speziell von Neumutationen”, sagt Dr. Kerstin U. Ludwig, Leiterin einer Emmy-Noether-Gruppe am Institut für Humangenetik des Universitätsklinikums Bonn.
Darüber hinaus haben die Forschenden mit Hilfe neuartiger Datenanalysemethoden Hinweise gefunden, dass auch der Transkriptionsfaktor Musculin eine Rolle spielt. “Dies deutet auf eine Beteiligung der embryonalen Entwicklung von Gesichtsmuskeln bei den Lippen-Kiefer-Gaumenspalten hin”, sagt Erstautorin Hanna Zieger aus Ludwig’s Team. “Das wurde bisher zwar vermutet, aber noch nicht nachgewiesen.”
Viele genetische Studien fokussieren sich vor allem auf die Regionen des Genoms, die den Code für die Herstellung von Proteinen beinhalten. “Wir haben verschiedene Ansätze kombiniert, um seltene Varianten in den 98 Prozent zu interpretieren, die keine Proteine direkt codieren”, berichtet Ludwig. Einer dieser Ansätze betrachtet diejenigen Bereiche des Genoms, an die Transkriptionsfaktoren binden können. Das sind Proteine, die bestimmte Basenabfolgen der DNA erkennen, daran andocken und dadurch das Auslesen von benachbarten Genen beeinflussen. Ein solcher Transkriptionsfaktor ist Musculin.
Mit ihren speziell darauf zugeschnittenen Auswertungsmethoden konnte Zieger zeigen, dass die Basenabfolge der Bindestellen von Musculin in Patienten öfter und starker verändert ist als in der Kontrollgruppe. “Das von Frau Zieger eingesetzte Auswerteskript kann auch bei anderen Erkrankungen angewandt werden”, sagt Ludwig, die Mitglied im Exzellenzcluster ImmunoSensation2 ist.
Wie die Nadel im Heuhaufen
Das Team nutzte öffentlich zugängliche Genomsequenzierungsdaten des Gabriella Miller Kids First Programms von mehr als 200 Kindern mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und deren Eltern. Zusammen mit dem Berlin Institute of Health und dem Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (Berlin) filterten die Forschenden genetische Varianten heraus, die nur in den betroffenen Kindern vorkommen, aber nicht in deren Eltern. Auf diese Weise kamen mehr als 13.000 dieser “Neumutationen” zusammen. Diese glichen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit rund 17.000 Neumutationen von nicht betroffenen Familien ab.
Es ging nun darum, Neumutationen in Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten zu finden, die deutlich häufiger in den Patienten als in den Kontrollpersonen vorkommen. “Auf diese Weise konnten wir einen Abschnitt auf Chromosom 4 identifizieren. Dieser Abschnitt liegt in der Nähe des SPRY1-Gens, welches bereits durch häufige Varianten als Gen für Lippen-Kiefer-Gaumenspalten bekannt war”, fasst Ludwig zusammen.
Die Forschungsgruppenleiterin hebt die Leistungen von Hanna Zieger hervor, die die Studie als Erstautorin während ihrer medizinischen Doktorarbeit absolvierte, einen Großteil davon während der Corona-Pandemie: “Sie hat sich in enormer Geschwindigkeit die Grundlagen der Datenanalyse angeeignet und viele der Analyse-Tools programmiert oder adaptiert.” Derzeit absolviert Hanna Zieger einen Abschnitt des Praktischen Jahres in Dresden, bevor sie im Frühjahr ihr Studium der Medizin mit dem Dritten Staatsexamen abschließen wird. Auch über das Studium hinaus möchte sich Hanna Zieger in der Forschung engagieren.
Die Ergebnisse der Grundlagen-Studie geben neue Einblicke in die biologischen Mechanismen, die zu Lippen-Kiefer-Gaumenspalten beitragen. Als Nächstes will das Forschungsteam den Datensatz des Gabriella Miller Kids First Programms weiter auswerten und anhand weiterer Patientengruppen detaillierter klären, ob und wie auch andere Transkriptionsfaktoren an Lippen-Kiefern-Gaumenspalten beteiligt sind und wie die Risikovarianten miteinander interagieren.