Einen Löwen erwartet man eigentlich nicht in einer Saga aus dem hohen Norden. Wenn der Held, Prinz Vilhjalm Sjod, Sohn von König Rikard, diesen Löwen dann auch noch aus den Klauen eines Drachen befreit und anschließend mit ihm Abenteuer erlebt, dann liest sich das wie eine wilde Mixtur von Genres und literarischen Motiven. Dieses bunte Text-Arrangement ist ein Kennzeichen der „Märchensagas“: Denn es sind im wahrsten Sinne des Wortes phantastische Geschichten, die ihre Leserinnen und Leser an exotische Orte entführen, von gefahrenvollen Reisen berichten, die Heldentaten und Schlachten tapferer Wikinger schildern. Trolle und Berserker, Zwerge und Riesen und verzauberte Prinzessinnen, magische Ringe, Schwerter und Trinkhörner, Drachen und Dämonen: Figuren und Requisiten dieser Sagas sind ebenso märchenhaft wie ihre Handlungen und Strukturen.
Anklänge an Ritterromane und an die Antike
„Die `Märchensagas´ sind im Grunde Unterhaltungsliteratur“, sagt Jonas Zeit-Altpeter, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand in der Abteilung für Skandinavistik der Universität Bonn. Zeit-Altpeter gehört zum Herausgeber- und Übersetzungsteam der Märchensagas. „Man kann sie daher sehr gut zum Zeitvertreib lesen.“ Die Anklänge an Ritterromane, an Schauplätze und Gestalten aus der antiken Literatur oder auch aus der Mythologie seien kein Zufall. So kann man die „Märchensagas“ durchaus als Mischformen bezeichnen, aufgeschrieben von gelehrten, kenntnisreichen Verfassern. Diese hätten neben dem Unterhaltungsaspekt auch die Absicht verfolgt, ein lebendiges, pralles Bild von einer fiktiven nordischen Vorzeit zu zeichnen, das bis heute die Vorstellungen prägt und zudem oftmals einen historischen Kern enthält.
Als Mischformen von Genres sind die Märchensagas nicht ganz leicht abzugrenzen: Denn die nun vorliegenden 17 Texte sind in verschiedenen Überschneidungen den unterschiedlichen Gattungen der Vorzeitsagas, Isländersagas, Rittersagas und der pseudohistorischen Königssagas zuzurechnen, erklären die Herausgeberinnen und Herausgeber. Die Werke stammen aus verschiedenen Sammlungen und stellen einen solch reichen Schatz an nordischer Literatur dar, dass für das Herausgabe- und Übersetzungsteam der ersten drei Bände „Sagas aus der Vorzeit“ bald feststand, mit der Veröffentlichung dieser Texte fortzufahren und die „Märchensagas“ zu publizieren.
Die Aufteilung der Sagas sei nach Neigung und Erfahrung erfolgt, erklärt Benedikt Hufnagel, Schwedisch-Tutor in der Abteilung für Skandinavistik der Universität Bonn. So habe etwa Valerie Broustin, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin, als Fachfrau für Genealogie erneut die Sagas übernommen, in denen weitverzweigte Familiengeschichten und Stammbäume eine große Rolle spielen. „Es ist ein Privileg für Studierende, an so einem Projekt mitzuwirken“, sagt Hufnagel. Zwar stecke viel akribische Arbeit in den Erstübersetzungen der Märchensagas, aber man werde dafür belohnt: „Wissenschaft macht Spaß“, resümiert er.
Die Rohfassung der jeweiligen Textabschnitte übersetzte jedes Teammitglied allein zuhause. In regelmäßigen Revisionssitzungen wurden dann die Übersetzungsergebnisse zur Diskussion gestellt und daran gefeilt. Besonders die Textarbeit im Team, das gemeinsame Ringen von Dozierenden und Studierenden um die bestmögliche Wiedergabe der Sagas „auf Augenhöhe“ hat Hufnagel sehr geschätzt. „Außerdem hatte man durch dieses Projekt die Möglichkeit, in die Verlagsbranche reinzuschnuppern, mitzubekommen wie ein Lektorat arbeitet und Sichtweisen außerhalb der Universität kennenzulernen“, fügt er hinzu. Die Mitarbeit an den Märchensagas sei daher wie ein kleines Praktikum gewesen.
Erfolg beim Publikum und positive Resonanz in der Fachwelt
Zwar richte sich das Buch in erster Linie an nichtakademische Kreise, sagen Zeit-Altpeter und Hufnagel, doch auch Studierende und Forschende der Skandinavistik bekämen durch die Erstübersetzungen ein wichtiges Hilfs- und Arbeitsmittel an die Hand. So verfügen die Märchensagas über Kartenmaterial sowie ein umfangreiches Glossar und Register. Für das Vorgängerprojekt „Sagas aus der Vorzeit“ hat sich diese doppelte Adressierung der Sagas bereits bewährt: Die „Heldensagas“ Band 1 waren so erfolgreich, dass es nun die 2. Auflage gibt. Darüber hinaus haben die Übersetzungen auch in der Fachwelt Anklang gefunden: Bei einer Fachtagung in Finnland wurde Zeit-Alpeter auf die „Sagas aus der Vorzeit“ angesprochen - und bei Kollegen aus Dänemark befänden sich die „Sagas“ nun im Bibliotheksbestand, erzählt er.