Dass es um ein Thema gehen würde, das jeden Einzelnen angeht, wurde bereits zu Beginn der Veranstaltung klar, als die beiden Moderatorinnen des Campusradios bonn.fm, Lioba Einhoff und Anne Holst, die rund 300 Gäste baten, sich ihre Sitznachbarn noch einmal genau anzuschauen. Wer sitzt da eigentlich neben mir und wie ist diese Person in Bezug auf mich zu verstehen? Wie kann man das Ich überhaupt erklären? Diese Fragen zogen sich wie ein roter Faden durch die Veranstaltung.
Genom als Rückgrat des Menschen
Einen ersten Ansatz zur Beantwortung lieferte der Humangenetiker Markus Nöthen. Er entführte die Teilnehmenden in die spannende Welt der Gene. Das Genom, so Nöthen, habe die positive Aufgabe eine Art Rückgrat des Selbst zu sein. Nur durch die konstanten Eigenschaften des Genoms, ändere sich die Person nicht nach jedem Aufwachen. Dabei sei erstaunlich, dass bei zwei zufällig aus der menschlichen Bevölkerung ausgewählten Personen die Genome weiterstgehend identisch seien. Bei rund 3,1 Milliarden Basenpaaren, die das menschliche Genom besitzt, ist nur ungefähr jedes tausendste Basenpaar unterschiedlich. Aus diesen verhältnismäßig kleinen Unterschieden ergebe sich das individuelle Genom des Menschen, von dem jeder Mensch je zwei besitzt. Bei eineiigen Zwillingen bestehe daher die Herausforderung, so Nöthen, der unter anderem an einer umfangreichen Zwillingsstudie forscht, dass beim identischen Genom ein Problem bei der eigenen Abgrenzung zum anderen gibt.
Das Du ist immer schon dabei
Einen anderen Blick auf die Frage nach dem Ich und den Anderen bot Clemens Albrecht, Inhaber des Lehrstuhls für Kultursoziologie. Mit einem einfachen Gedankenexperiment zeigte er den Anwesenden, dass eine Person sich immer auch durch die von ihr erwarteten Erwartungen von außen, also den Erwartungserwartungen, selbst konstituiert. Im Ich, so das Fazit, ist das Du daher immer schon präsent. Das legte er auch in einer Diskussion auf dem Podium mit den zwei Studierenden Corvin Nagel und Anne Weier, dar. In Bezug auf den amerikanischen Philosophen, Soziologen und Psychologen George Herbert Mead zeigte er auf, wie sich die Identität (engl. Self) durch die eigenen Handlungsimpulse (engl. I) und die eigene Perspektive auf mich (engl. Me) bildet und welchen Beitrag Erwartungen und eben auch Erwartungserwartungen dabei spielen.
Identitätsstiftung für Gesellschaften
Dass man das Thema Identität auch in einen größeren gesellschaftlichen Kontext einbinden kann, zeigte Argelander-Professorin Julia Binter am Beispiel von restituierten Kulturgütern aus Namibia. Ihre gemeinsamen Forschungen mit namibischen Partner*innen habe ihr tiefe Einblicke in die Identität der namibischen Gesellschaft ermöglicht. Am Beispiel einer Puppe aus dem Ethnologischen Museum in Berlin haben die Forschenden die durch koloniale Verflechtungen nach Deutschland gekommen Kulturgüter mit Blick auf eine neue namibische Indentitätsfindung erforscht. Vor allem der Kontakt zu Wissensträger*innen in der namibischen Gesellschaft habe dabei den Blick der Froschenden erweitert. Die Puppe, vermutlich entstanden in einer Nähschule einer Missionsstation, sei nicht nur ein Beweisstück eines religiösen Kontakts und des Versuchs der Umerziehung der jungen Frauen durch ein neues kolonialistisches Modeideal. Vielmehr sei die Puppe auch eine Verknüpfung mit dem seit Generationen übertragenen Wissen. Kulturgüter, so das gemeinsame Fazit der Froschenden, habe eine identitätsstiftende Rolle. Aus namibischer Perspektive hätten die ausgewählten Kulturgüter das Potential, Geschichte und Zukunft zu beschreiben und damit auch einen Beitrag zur Versöhnung zu leisten.
Das Ich und die Anderen in der Kultur
Abgerundet durch den Auftritt des Jazz-Chors der Universität Bonn und der Gruppe „Tippgemeinschaft“ des litterarium der Universität Bonn, spielte auch der künstlerische Zugang zum Thema eine wichtige Rolle. So zeigte die Gruppe Tippgemeinschaft mit einem für den Abend geschriebenen Stück das Pardox auf, dass das Ich nur scheinbar frei ist, da es, im Stück symbolisiert durch ein dickes Tau, immer mit dem Wir, also dem Anderen, verbunden ist. Am Ende wird es sogar – gegen seinen Willen – selbst zum Wir.
„Der tosende Applaus am Schluss der Veranstaltung hat gezeigt, dass diese Mischung aus Diskussion, wissenschaftlichen Impulsen und kultureller Auseinandersetzung einen Nerv getroffen hat“, freut sich Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Hoch, der Rektor der Universität Bonn. „Auch aus meiner Perspektive als Entwicklungsbiologe, habe ich spannende Ansätze aus diesem interdisziplinären Abend mitnehmen können. Ich bin immer wieder neu beeindruckt, welchen herausragenden Wissensschatz die Universität beheimatet und freue mich, dass wir durch das Format mit der Gesellschaft in den Austausch gehen können.“
Den Videomitschnitt zur Veranstaltung finden Sie in Kürze auf der Veranstaltungsseite. Die nächste Veranstaltung der Reihe „Die Exzellenzuniversität Bonn lädt ein“ findet am 04. Dezember zum Thema „Mensch und Tier. Mensch als Tier?“ statt.