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Ein Gewerbegebiet in der Bonner Nordstadt mit Firmengebäuden, Autohäusern und Geschäften. Der Spaziergänger auf dem Gehsteig in der Brühler Straße ahnt vermutlich nicht, welches Kleinod ihn hinter den grauen Mauern des vierstöckigen Gebäudes erwartet, an denen er tagtäglich vorbeigeht. Würde er einen Schlenker hinein und in die zweite Etage machen, erwartete ihn ein friedlicher Ort, an dem das Treiben draußen vorüberzieht. Dort heißen Menschen aus längst vergangenen Zeiten den Besucher willkommen – in Form von gezeichneten Porträts, die an der Wand eines Eingangsflures hängen. Dem Flur zum Zentrum für Historische Friedensforschung (ZHF) der Universität Bonn.
Zentrumsleiter Prof. Dr. Michael Rohrschneider steht vor einem Bücherregal in der langgezogenen Bibliothek und blickt stolz auf 48 weiß und braun eingebundene, dicke Bände. „Das ist ein richtiger Schatz, den wir hier haben“, sagt der Historiker fast ehrfürchtig. Der Schatz ist das, was Forschende offiziell Acta Pacis Westphalicae nennen, eine Quellenedition, die Wissen zum Westfälischen Frieden zusammenfasst.
Westfälischer Frieden steht als Sammelbegriff für drei Friedensverträge, die 1648 in Münster und Osnabrück das Ende des 30-jährigen und 80-jährigen Kriegs besiegelten. Den Beschlüssen ging ein fünf Jahre dauernder Friedenskongress voraus, bei dem Gesandte aus ganz Europa in Münster und Osnabrück zusammenkamen. Aber warum interessieren sich Wissenschaftler:innen auch heute noch für diesen lange zurückliegenden Prozess? „Die westfälischen Friedensbeschlüsse und -verhandlungen sind auf alle Epochen anzuwenden und auch für die heutige Zeit noch hochrelevant“, sagt Michael Rohrschneider und zieht einen Band aus dem Regal. „Wir lernen daraus zum Beispiel etwas über langjährige Feindbilder, wie sie heute im Nahen und Mittleren Osten eine ähnliche Rolle spielen.“
Die aktuelle Sammlung ist das Ergebnis jahrzehntelanger Spurensuche. In den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gründete man nach dem Krieg die Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte. Das Ziel: Quellen in ganz Europa zusammenzutragen, um zu erfahren, wie Frieden entstehen kann.
Hunderte von Mikrofilmen
Der erste Band der Aktenedition zum Westfälischen Frieden erschien 1962, seitdem kam in fast jedem Jahr ein Band dazu. 2013 ging die Sammlung von der Düsseldorfer Akademie der Wissenschaften und der Künste auf das Zentrum für Historische Friedensforschung über, wo die Arbeit seither fortgesetzt wird.
Von den Originalquellen bis zum edierten Band ist es allerdings ein langer Weg mit verschiedenen Aufbereitungsschritten. Jonas Bechtold, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZHF, steht im Herzstück der Friedenssammlung, einem kleinen Raum mit unscheinbaren braunen Büroschränken. Er zieht eine der Schubladen heraus, und zum Vorschein kommen schwarz und rot beschriftete Schächtelchen aus Pappe, die an Medikamente in einem Apothekerschrank erinnern. Er greift nach einer der Schachteln – entnimmt ihr jedoch keine Tabletten, sondern eine Negativrolle. Es ist einer von zahlreichen Mikrofilmen, die über die Jahre aus den Originalquellen erstellt wurden, darunter Korrespondenzen, Protokolle, Tagebücher, Presseberichte. Jonas Bechtold entrollt den Film und legt ihn auf ein Lesegerät aus den Siebzigerjahren, das zuverlässig seinen Dienst tut. Auf der belichteten Projektionsfläche erscheint der auf lateinisch handgeschriebene Friedensvertrag zwischen dem Kaiser und Frankreich.
Die einzigartige Sammlung wissen heute Forschende aus den unterschiedlichsten Disziplinen zu schätzen und kommen dafür aus ganz Europa nach Bonn. Darunter sind nicht nur Historiker:innen, sondern auch Theolog:innen, Rechts-, Politik-, Kultur-, Sprach- und Medienwissenschaftler:innen. „Alle arbeiten mit denselben Quellen, haben aber unterschiedliche Fragestellungen“, betont Jonas Bechtold. Sogar für die Klimaforschung können die Quellen interessant sein, denn in einigen der jahr-
hundertealten Tagebucheinträgen der Diplomaten ist detailreich dokumentiert, wie sich das Wetter zu dieser Zeit verhielt.
Michael Rohrschneider geht in der „Ahnengalerie“ im Eingangsbereich des ZHF von Porträt zu Porträt und weiß zu jedem der dort ausgestellten Gesandten des Westfälischen Friedenskongresses eine Geschichte zu erzählen. „Die spanischen und italienischen Diplomaten erlebten einen regelrechten Kulturschock. Sie waren oft krank, vertrugen weder das westfälische Wetter noch das Essen“, berichtet er und zeigt auf Bilder ernst blickender Herren mit barocken Perücken. Andere Gesandte waren untereinander zerstritten, konnten sich nicht im selben Raum aufhalten. Ihre auf Protokolle gekritzelten Karikaturen von verhassten Personen sind ebenfalls an den Wänden des Zentrums ausgestellt. Was zunächst nach skurrilen Anekdoten klingt, trägt viel zur Forschungsarbeit bei. „Die Geschichten zeigen uns, welche Rolle die Gefühlslage bei Verhandlungen spielen kann und auch, aus welchen Gründen politische Prozesse scheitern können, manchmal sind es Kleinigkeiten“, erklärt Jonas Bechtold.
Michael Rohrschneider unterstreicht: „Unsere universitäre Grundlagenforschung betrachtet Friedensstiftungsprozesse mit großer Tiefenschärfe und kann helfen, Frieden besser zu verstehen. Werkzeuge oder direkte Handlungsanweisungen für die Politikberatung können wir daraus allerdings nicht ableiten.“ Abgeschlossen ist die Zeitreise noch lange nicht.