Die Forschenden schlagen vor, dass Sterne in Sternhaufen ihre Masse auf zwei verschiedene Arten gewinnen: durch „normale“ Akkretion in einer Scheibe, was zu einer schnellen Rotation führt – diese Sterne bilden die rote Hauptreihe – oder durch das Verschmelzen von Doppelsternen, was zu langsam rotierenden Sternen führt, die blauer und damit jünger erscheinen.
Alles begann mit dem wohl berühmtesten Diagramm der Astronomie, dem Hertzsprung-Russell-Diagramm. Dieses Diagramm wurde vor mehr als einem Jahrhundert von den beiden Astronomen Eijnar Hertzsprung und Henry Norris Russell unabhängig voneinander erstellt und ordnet die Sterne nach ihrer Helligkeit und Farbe. Viele der Dinge, die wir über Sterne und ihre Entwicklung wissen, stammen aus Untersuchungen, wie und warum Sterne in diesem Diagramm in Gruppen angeordnet sind. Unsere Sonne zum Beispiel befindet sich auf der so genannten „Hauptreihe“, wo die meisten Sterne angesiedelt sind.
Einige Sterne finden sich jedoch an seltsamen Positionen in diesem Diagramm. Lange Zeit war es schwierig, die verschiedenen Gruppen klar zu unterscheiden, da herkömmliche Teleskope nicht genau genug waren. Jüngste Beobachtungen mit dem Hubble-Weltraumteleskop haben jedoch gezeigt, dass die Hauptreihen junger offener Sternhaufen aus mehreren diskreten Komponenten bestehen. Insbesondere die Daten für NGC 1755, einen offenen Sternhaufen in der Großen Magellanschen Wolke mit einem Alter von etwa 60 Millionen Jahren, zeigten viele rätselhafte Merkmale, wie etwa eine doppelte Hauptreihe.
„Wir glauben, dass die Sterne in den Sternhaufen alle zur gleichen Zeit aus der gleichen Gaswolke entstanden sind“, erklärt Chen Wang, die an der Universität Bonn promoviert hat und erst seit kurzem Postdoc am MPA und Hauptautorin der jetzt in Nature Astronomy veröffentlichten Studie ist. „Sie sollten gleich alt sein und die gleiche chemische Zusammensetzung haben. Aber wenn das stimmt, wie kann es dann eine zweite Reihe von Sternen geben, die blauer sind?“
Diese merkwürdige Erscheinung ließ die Astronomen ratlos zurück; viele ignorierten diese Erscheinung sogar, da eine Erklärung dafür nur schwer zu finden war. Mit ihrer Erfahrung als theoretische Astrophysikerin kombinierte Chen jedoch zwei Hinweise, um eine mögliche Herkunft dieser blauen Hauptreihensterne vorzuschlagen.
Dieses Hertzsprung-Russell-Diagramm zeigt die Farben (B - V) und Helligkeiten der Sterne in NGC 1755 (schwarze Punkte). Die blaue Hauptreihe ist durch blaue Kreise gekennzeichnet. Die rote Linie zeigt einen Fit an die rote Hauptreihe, in der die Sterne ein Alter von 58 Millionen Jahren haben. Die blaue Linie zeigt den entsprechenden Fit für die blauen Sterne. Während das Alter bei beiden gleich ist, ist der Rotationsparameter Wi bei den roten Sternen deutlich größer.
Erstens stellte sie mit der Hilfe von Computersimulationen fest, dass man die blauen Sterne erklären kann, wenn sie langsamer rotieren als die anderen Sterne des Haufens. Zweitens zeigten neuere Modelle von Verschmelzungen zweier Sterne, dass die daraus entstandenen Sterne stark magnetisch werden und sich sehr langsam drehen. Chen kombinierte diese beiden Ideen und schlug vor, dass die blauen Sterne in der Tat sehr langsam rotierende Sterne sind, die aus Sternverschmelzungen stammen.
„Das Leben von Sternen in Doppelsternsystemen kann sehr kompliziert sein und sich stark von dem der Einzelsterne unterscheiden“, sagt sie. „Mit unseren Computersimulationen können wir die Auswirkungen von Sternverschmelzungen auf die Farben und die Leuchtkraft von Sternen untersuchen und ihre Merkmale im Hertzsprung-Russell-Diagramm simulieren.“
Bei der Verschmelzung eines Doppelsternsystems entsteht ein Stern, der massereicher ist als jeder seiner beiden Vorgängersterne. Zudem ist dessen Wasserstoffgehalt im Kern höher als der eines gleich alten Einzelsterns mit derselben Masse. Die verschmolzenen Sterne können also das gleiche Alter wie alle anderen Sterne des Haufens haben, erscheinen aber im Farben-Helligkeits-Diagramm jünger, aufgrund ihrer blauen Farbe. Darüber hinaus ist die Massenverteilung von blauen und roten Hauptreihensternen unterschiedlich, was wiederum durch ihren Ursprung in einer Verschmelzung erklärt werden kann.
„Die von Chen vorgeschlagene Verschmelzungshypothese ist als Erklärung für die blauen Hauptreihensterne sehr reizvoll, da sie verschiedene rätselhafte Befunde auf logische Art miteinander verbindet“, führt Selma de Mink aus, Direktorin und Leiterin der Abteilung Stellare Astronomie am MPA. Dies würde bedeuten, dass ein signifikanter Teil der Sterne mit einem Begleiter verschmilzt, bevor ihr Leben überhaupt begonnen hat. Wenn Chen Recht habe – und das könnte durchaus der Fall sein – dann könnte dies viele Fragen, wie Sterne entstehen, warum sie manchmal schnell und manchmal langsam rotieren und warum manche Magnetfelder haben, in einem neuen Licht erscheinen lassen.
„In dem Paper in Nature Astronomy zeigen wir, dass aus Daten von Sternhaufen gefolgert werden kann, dass Sterne auf zwei verschiedene Arten entstehen können: durch Gas-Akkretion (wie schon immer gedacht) oder durch Sternverschmelzung (das ist neu und betrifft rund 30 Prozent aller Sterne)“, sagt Prof. Dr. Norbert Langer vom Argelander-Institut für Astronomie der Universität Bonn und vom Max-Planck-Institut für Radioastronomie in Bonn. „Dies wirft neues Licht auf die Anfangsmassenfunktion der Sterne sowie auf die bi-modale Verteilung ihrer Spins und ihrer Magnetfelder.“
Mehr als hundert Jahre, nachdem Hertzsprung und Russell ihr berühmtes Diagramm erstellt haben, könnte also endlich eine Erklärung für das mysteriöse Rätsel der blauen Hauptreihe gefunden worden sein. Aber wie bei jeder Hypothese sind natürlich weitere Tests erforderlich.
Publikation: Chen Wang, Norbert Langer, Abel Schootemeijer, Antonino Milone, Ben Hastings, Xiao-Tian Xu, Julia Bodensteiner, Hugues Sana, Norberto Castro, D. J. Lennon, Pablo Marchant, A. de Koter and Selma E. de Mink: Stellar mergers as the origin of the blue main-sequence band in young star clusters, Nature Astronomy, Internet: https://www.nature.com/articles/s41550-021-01597-5
Diese Nachricht basiert auf einer Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Astrophysik: https://www.mpa-garching.mpg.de/1049160/news20220216