Kann ein bösartiger Virus, der eine Atemwegserkrankung verursacht, in seinem lebensbedrohlichen Verlauf diskriminierend sein? Eine alte Weisheit besagt, dass Ungleichheiten sich meist erst deutlich zeigen, wenn eine Katastrophe oder Krise geschieht. Diese ereignen sich nämlich nicht in einem sozialen Vakuum, sondern haben je nach Kontext und Personengruppe ihre eigene Prägung. Welche Auswirkungen hat die COVID-19-Pandemie auf Frauen und Männer über die Krankheit hinaus? Machen Frauen andere Erfahrungen als Männer? Ist es überhaupt möglich, eine solch allgemeine Frage zu stellen, wenn man bedenkt, dass auch andere Faktoren wie Wohnort, Alter, Kultur und andere soziale und ökonomische Bedingungen eine Rolle spielen? In diesem Beitrag konzentrieren wir uns auf die Situation von Frauen im globalen Süden, deren Alltag auch schon vor dem Ausbruch des Virus von gravierenden Ungleichheiten geprägt war.
Pflege, Gesundheitsversorgung: Frauen sind überall
Schauen wir uns zunächst die Gesundheitsversorgung an. Weltweit sind es vor allem Frauen, die die Pflegearbeit sowohl zu Hause als auch im öffentlichen Gesundheitswesen leisten. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) besteht die größte Berufsgruppe innerhalb des Gesundheitssektors aus Krankenschwestern und Krankenpflegern (WHO, 2020). Ungefähr 90% des Pflegepersonals ist weiblich. Da Krankenschwestern und Krankenpfleger keine Führungspositionen innehaben, treffen sie selten die wichtigen Entscheidungen. Darüber hinaus gibt es laut WHO „einige Hinweise auf ein geschlechtsspezifisches Lohngefälle sowie auf andere Formen geschlechtsspezifischer Diskriminierung im Arbeitsumfeld" (WHO, 2020, S.7). Wie wir täglich aus den Nachrichten erfahren, fällt es zurzeit sogar reichen Ländern schwer, ihr Personal im öffentlichen Gesundheitssystem mit ausreichendem medizinischen Schutzmaterial auszustatten. Noch schlimmer ist die Situation in Ländern mit schwachen Gesundheitssystemen.
Unbezahlte Arbeit ist meist Frauenarbeit
Im häuslichen Bereich sind es vor allem Frauen, die den Großteil der unbezahlten und unterbezahlten Arbeiten wie Kochen, Putzen, Wasser- und Brennholzbeschaffung und die Betreuung von alten und kranken Menschen verrichten. Frauen in ländlichen Gebieten und Ländern mit niedrigem Einkommen verbringen bis zu 14 Stunden pro Tag mit solchen unbezahlten Tätigkeiten, das ist fünfmal mehr als die Männer (Oxfam, 2020).
Die meisten Volkswirtschaften der Welt führen die unbezahlte Arbeit von Frauen in ihren nationalen Statistiken oder politischen Maßnahmen nicht auf. Und dies obwohl der globale Wert der von Frauen geleisteten Arbeit auf das Dreifache der weltweiten Tech-Industrie geschätzt wurde (Oxfam, 2020). Daher tragen die ‚unsichtbaren‘ Frauen weiterhin die Last der schwachen öffentlichen Gesundheits- und Versorgungssysteme. Eine Pandemie, wie wir sie heute erleben, verstärkt die geschlechtsspezifischen Ungleichheiten bei den unter- bzw. unbezahlten Tätigkeiten in der Pflege und im Haushalt und verschlimmert die sowieso schon prekären Lebensbedingungen von Millionen von Frauen auf der Welt .
Häusliche Gewalt: die Pandemie innerhalb der Pandemie
Ein weiterer Zusammenhang zwischen der aktuellen Pandemie und der untergeordneten Stellung der Frauen in vielen Gesellschaften spiegelt sich in der Zunahme von häuslicher Gewalt wider. Die häusliche Gewalt gegen Frauen ist weltweit auf ein so hohes Niveau gestiegen, dass der UN-Generalsekretär Antonio Guterres alle Regierungen dazu dringt, die Gewaltprävention und Abhilfe bei Gewalt gegen Frauen zu einem zentralen Bestandteil der nationalen Aktionspläne für COVID-19 zu machen. Die zunehmende Gewalt führt in manchen Ländern auch zu einem extremen Anstieg an ermordeten Frauen. Die Organisation Amerikanischer Staaten führt auf, dass in Lateinamerika durch die staatlich verordneten häuslichen Quarantänemaßnahmen bisher mehr Frauen an geschlechtsspezifischer Gewalt als am Corona-Virus gestorben sind. Wirtschaftliche Sorgen und psychologische Not allein können diese Pandemie innerhalb der Pandemie weder rechtfertigen noch erklären. Bei der Suche nach Ursachen muss der tief verwurzelten sozialen Struktur der männlichen Autorität und der ungleichen Verteilung der Machtverhältnisse auf den Grund gegangen werden. Bisher gab es während der COVID-19-Pandemie in den Medien wenig Aufmerksamkeit für Initiativen gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Wie schwerwiegend das Problem ist, wird sich vor allem an den langfristigen sozialen und wirtschaftlichen Kosten zeigen.
Informeller Sektor: Business der Frauen
Ein weiteres wichtiges Thema sind die Neben- und Auswirkungen der weltweiten Lockdowns im Arbeits- und Ernährungsbereich. Zahlreiche Regierungen haben harte Ausgangssperren verhängt, u.a. um einen Zusammenbruch ihrer meist unvorbereiteten Gesundheitssysteme zu verhindern. Diese Sperren werden jedoch lebensbedrohlich für Menschen, die im informellen Sektor arbeiten, wie Straßenverkäufer, Hausangestellte, Gelegenheitsarbeiter, Kleinbauern und landwirtschaftliche Saisonarbeiter. Laut UN Women (2016) stellen Frauen die Mehrheit der informellen oder befristeten Beschäftigten in vielen Regionen der Welt dar.
Frauen, die im informellen Sektor oder in befristeten Arbeitsverhältnissen arbeiten, haben meist keinen Zugang zu angemessenen Krankenversicherungen und anderen Sozialsystemen. Damit gehören sie zu den ersten, die ihre Einkommensquelle bei einem Lockdown verlieren. Wenn Frauen sich zudem als Migrantin oder illegal in einem Land aufhalten, haben sie nicht einmal Zugang zu irgendwelchen Sozialleistungen oder Gesundheitseinrichtungen.
Ernährungssicherheit
Um ausreichend Essen zu können und ernährungssicher zu sein, wird entweder ein Einkommen, Vermögen bzw. Sozialhilfe benötigt, um Nahrungsmittel kaufen zu können, oder die notwendigen Ressourcen, um selbst Nahrungsmittel produzieren zu können. Geschlossene Grenzen, Unterbrechungen des Handels und der Märkte sowie Reisebeschränkungen im eigenen Land können die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln verringern und die Nahrungsmittelpreise auf nationaler und lokaler Ebene in die Höhe treiben. Reisebeschränkungen können auch den Zugang von Kleinbauern zu Märkten behindern, auf denen sie notwendige landwirtschaftliche Betriebsmittel für die Anbausaison, wie Saatgut, kaufen oder ihre Ernte verkaufen. Kleinbauern und -bäuerinnen geben oft viel Geld für den Kauf von Nahrungsmitteln aus, da sie selbst nicht genug produzieren, um ihre Familien zu versorgen. Sie können daher, genau wie arme städtische Haushalte, von steigenden Lebensmittelpreisen betroffen sein. Steigende Preise oder Nahrungsmittelknappheiten wirken sich auch auf die Frage aus, ob im Haushalt der schrumpfende Konsum gleichmäßig verteilt wird oder ob einzelne Mitglieder benachteiligt werden. Im Allgemeinen sind Frauen häufiger von Hunger und Unterernährung betroffen als Männer. In vielen Regionen Asiens und Afrikas sind Frauen und Mädchen in armen Haushalten oft die ersten, die weniger essen, wenn Nahrungsmittel knapp werden. Viele Frauen sind bereits unter- und mangelernährt und daher möglicherweise stärker betroffen als Männer, wenn sie mit dem Covid-19 infiziert werden, oder wenn sie gezwungen sind, ihren Nahrungsmittelkonsum noch weiter zu reduzieren. Wenn schwangere oder stillende Frauen ihren Nahrungsmittelkonsum einschränken, kann dies auch langfristige Auswirkungen auf die kognitive und körperliche Entwicklung ihres Kindes haben.
Möglichkeiten zur Verbesserung
Auch wenn die gegenwärtige Krise düster erscheint, gibt es auch einige Chancen. Der weltweite Lockdown hat gezeigt, wie wichtig die lokale Nahrungsmittelproduktion ist. Dies könnte ein Vorteil für Frauen und Kleinbauern sein, denn wenn weniger Lebensmittel gehandelt werden, steigen Nachfrage und Preise für lokale Produkte. Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, können Frauen ihre Ernte besser vermarkten, und es könnte profitabel werden, mehr Gemüse anzubauen. Damit Frauen in größerem Umfang davon profitieren, müssen die Verbindungen der Bauern zu Märkten bzw. Verkaufsstellen verstärkt werden, z.B. durch die Bereitstellung billiger und sicherer Transportdienste in entlegenen Gebieten. Trotz bestehender Ausgangsbeschränkungen sollte ein kontrollierter Zugang zu verschiedenen Verkaufsstellen ermöglicht und sichere Absatzmöglichkeiten für Feldfrüchte und Gemüse geschaffen werden. Damit die Frauen diese Chancen nutzen können, brauchen sie aber auch einen besseren Zugang zu Land, Krediten und Bildung. Dies ist wichtiger denn je.
Geschlechtsspezifische Diskriminierung: Chance auf Verbesserung
Gesundheit, Gewalt, Einkommensungleichheit und Nahrungsmittelproduktion sind nicht nur Entwicklungsfragen, sondern auch menschliche Geschichten jenseits trockener Statistiken. Zunehmend werden diese Geschichten in Regierungs- und NGO-Berichten mit der Pandemie in Verbindung gebracht. Die Berichte, Statistiken und Studien zeigen, dass Katastrophen sich unterschiedlich auf verschiedene Personengruppen auswirken und dass arme, marginalisierte und unterdrückte Gruppen oft am härtesten betroffen sind. Von allen Formen der Diskriminierung ist die geschlechtsspezifische Diskriminierung die am weitesten verbreitete. Es ist also allerhöchste Zeit, universelle soziale Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die dem spezifischen Beitrag von Frauen in der Pflege, im Haushalt und zur Lebensgrundlage von Familien Rechnung tragen. Wenn sich zudem der Zugang von Frauen zu Land, Krediten, formeller Beschäftigung, Versicherungen und Sicherheitsnetzen verbessert, wird die Gesellschaft als Ganzes davon profitieren und in Krisenzeiten widerstandsfähiger sein.
Komplexer, aber grundlegend wichtig ist es, die typischen Geschlechterrollen und -normen zu verändern, die Frauen eine untergeordnete Rolle zuweisen. Die Sensibilisierung bzgl. Ungleichheit und die Einrichtung von Hotlines für häusliche Misshandlung und Gewalt sind wichtig aber nicht ausreichend. Es ist die Aufgabe von beiden, Frauen und Männern, Geschlechterrollen und -hierarchien so zu verändern, dass die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern verschwinden. Die aktuelle Pandemie hat globale, regionale, soziale, ökonomische und geschlechtsspezifische Assymetrien ans Licht gebracht, aber sie könnte auch genutzt werden, um positive Veränderungen zu bewirken.
Die Autor*innen
Dennis Avilés-Irahola, Tina Beuchelt, Christine Schmitt, Sarah Nischalke, Eva Youkhana und Franziska Geiger sind Mitglieder der Gender-Gruppe am Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität Bonn.
Das Dezernat für Hochschulkommunikation veröffentlicht unter dem Titel: „Lebenszeichen – Wir bleiben im Gespräch!“ Beiträge aus der Universität Bonn, die unter dem Eindruck der Bekämpfung des Coronavirus und der daraus resultierenden Bedingungen entstanden sind. Als Bildungseinrichtung will die Universität Bonn damit auch in schwierigen Zeiten im Diskurs bleiben und die universitäre Gemeinschaft fördern. In loser Folge erscheinen dazu auf der Website der Universität Bonn Beiträge von Universitätsangehörigen, die das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten, Dialoge in Gang setzen, Tipps und Denkanstöße austauschen wollen. Wer dazu beitragen möchte, wendet sich bitte an das Dezernat für Hochschulkommunikation, kommunikation@uni-bonn.de.