Unter sozialer Achtsamkeit versteht man ein kooperatives zwischenmenschliches Verhalten, bei dem der Einzelne die Bedürfnisse und Perspektiven anderer berücksichtigt. Soziale Achtsamkeit, die wenig oder gar nichts kostet, besteht in der Regel aus kleinen Handlungen der Aufmerksamkeit oder Freundlichkeit. Obwohl sie recht häufig vorkommt, war eine solche kostengünstige Kooperation bisher kaum empirisch erforscht worden. In einer großen Kooperation untersuchten 65 internationale Forscherinnen und Forscher jetzt, ob die soziale Achtsamkeit in verschiedenen Ländern und Regionen unterschiedlich ausgeprägt ist. Die Forschenden erfassten die Tendenz der sozialen Achtsamkeit in verschiedenen Entscheidungsaufgaben, bei denen Personen anderen die Wahl lassen oder einschränken. Eine Aufgabe kann so aussehen: Auf einem Teller liegen ein roter Apfel und drei grüne Äpfel. Wählt ein Teilnehmer einen der grünen Äpfel, haben die nach ihm kommenden Teilnehmer eine größere Auswahl – grüne oder rote Äpfel. Nimmt jemand einen roten Apfel, wird anderen diese Wahlmöglichkeit genommen – eine Handlung, die weniger prosozial ist.
An der Studie nahmen 8.354 Teilnehmer aus 31 Industrieländern und -regionen teil. Die Forschenden stellten erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern fest. Da die Mechanismen, die diesen Unterschieden zugrunde liegen, sehr komplex sind, soll in Folgestudien diese Variabilität weiter erforscht werden. Ein weiteres interessantes Ergebnis der Studie: Länder mit einem hohen Maß an sozialer Achtsamkeit schnitten bei der Erreichung von Umweltschutzzielen relativ besser ab – was den Gedanken aufkommen lässt, dass kostengünstige Kooperation und Freundlichkeit auf individueller Ebene auch für globale Probleme von Bedeutung sein könnten. Wie das genau funktioniert, wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in weiteren Studien untersuchen.
Ein weiteres Ergebnis war, dass soziale Achtsamkeit mit einer kostenintensiveren Zusammenarbeit auf individueller und nationaler Ebene verbunden war. Daher sind die Ergebnisse für die Forschenden sowohl von wissenschaftlichem als auch von gesellschaftlichem Interesse. Der Hintergrund: Die aktuelle Studie konzentriert sich auf das, was die meisten Menschen als Freundlichkeit oder Rücksichtnahme bezeichnen würden. Teurere Formen der Zusammenarbeit könnte man als Hilfsbereitschaft bezeichnen. „Wir wissen jetzt, dass sich die Länder in Bezug auf Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft ziemlich stark unterscheiden können. Gegenwärtig ist unklar, woher diese Unterschiede kommen“, sagt Prof. Dr. Bernd Weber vom Center for Economics and Neuroscience (CENs) der Universität Bonn. Er hat gemeinsam mit Susann Fiedler vom Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn an der Studie mitgewirkt. Die Forschenden vermuten, dass die Unterschiede im Grad der sozialen Achtsamkeit für das Sozialkapital einer Gesellschaft von Bedeutung sein könnten.
Publikation: Niels J. Van Doesum et al.: Social Mindfulness Across the Globe. Proceedings of the National Academy of Sciences; https://doi.org/10.1073/pnas.2023846118