Kultur und Gesundheit sind in der modernen Welt miteinander verbunden – diesen Zusammenhang zeigen nicht zuletzt die Zivilisationskrankheiten, die häufig aus dem Lebensstil resultieren. Wie sich diese Beziehung entwickelt hat, ist jedoch unklar. Das Wachstum ist ein Indikator für die Gesundheit. Eine geringere Körpergröße als aufgrund der genetischen Veranlagung zu erwarten wäre, kann somit auf ungünstige Umwelt- beziehungsweise Ernährungsfaktoren hinweisen. Frühere Forschungen deuten darauf hin, dass die Menschen in der Jungsteinzeit ihr genetisches Größenpotenzial nicht erreichten. Es ist jedoch nicht bekannt, wie sich dies zwischen den Regionen und zwischen den Geschlechtern unterschied.
Samantha Cox und ihre Kolleginnen und Kollegen analysierten anhand von alter DNA, stabilen Stickstoff- und Kohlenstoffisotopen (als Hinweis auf die Ernährung), Paläopathologie (als Hinweis auf den Gesundheitszustand) und Skelettmessungen die Daten von 1.535 Individuen aus der Jungsteinzeit. Ihr Alter wurde auf zwischen 8.000 und 6.000 Jahre datiert. Ziel war, Größenunterschiede und mögliche Ursachen zu untersuchen. Die Skelette stammten aus vier Regionen Europas: nördliches Mitteleuropa, südliches Mitteleuropa, sowie Balkan- und Mittelmeerraum. Das Geschlecht wurde anhand der Chromosomen oder der Skelettmorphologie klassifiziert.
An der Studie beteiligt ist Dr. Eva Rosenstock vom Bonn Center for ArchaeoSciences der Universität Bonn. Die Wissenschaftlerin hat einen Teil der Daten geliefert und analysiert. „Auch bei heutigen Menschen wird immer wieder darüber debattiert, welche Faktoren die Körpergröße steuern: Sind es vor allem die Gene, die Ernährung oder das, was wir als sozio-ökonomisch-politisch-emotionales Umfeld oder kurz englisch SEPE-environment fassen?“, sagt Rosenstock. „Dazu leistet diese Studie einen Beitrag.“ Die Archäologin ist Mitglied im Transdisziplinären Forschungsbereich „Present Pasts“ der Universität Bonn.
Die Autorinnen und Autoren zeigen, dass es in Nordmitteleuropa bei beiden Geschlechtern großen Umweltstress gab. Generell sind Frauen etwas kleiner als Männer. Die Körpergröße der Frauen war jedoch im Norden Mitteleuropas deutlich geringer als durch die Genetik zu erwarten gewesen wäre. Die Forschenden vermuten, dass kulturelle Präferenzen es Knaben ermöglichten, den auf beiden Geschlechtern lastenden Umweltstress besser zu kompensieren und somit größer zu wachsen als Mädchen. „Mögliche Ursachen könnten Vorteile sein, wie etwa eine bessere Ernährung oder mehr Zuwendung während der Wachstumsphase“, sagt Rosenstock. Nach Ansicht der Archäologin der Universität Bonn ist weitere Forschung etwa zum Ernährungsverhalten erforderlich. „Es ist auch noch völlig unklar, welche Rolle frühe Schwangerschaften bei den heranwachsenden Mädchen für den Körper spielten.“
In mediterranen Populationen hingegen erwies sich der Unterschied zwischen den Geschlechtern geringer. Das lässt nach Ansicht des Teams darauf schließen, dass es in dieser Region auch weniger kulturell getriebene Ungleichheit zwischen den Geschlechtern gab. Die Forschenden sind der Ansicht, dass ihre Ergebnisse die Rolle kultureller und umweltbedingter Faktoren bei der Entwicklung von Geschlechtsunterschieden in der Statur im Laufe der Zeit belegen. Sie räumen jedoch ein, dass ihre Analysen durch die Verfügbarkeit archäologischer Daten begrenzt sind.