Professor Becher, in Bonn untersuchen Wissenschaftler:innen aus unterschiedlichen Disziplinen seit Jahren gemeinsam die Strukturen von Macht und Herrschaft in der Vormoderne. Warum widmen Sie sich ausgerechnet diesem Forschungsthema?
Macht und Herrschaft sind für viele Gesellschaften die Basis des Zusammenlebens. Und ich glaube, dass es sehr lohnenswert ist, über die Art und Weise nachzudenken, wie diese Faktoren in das Leben der Menschen eingreifen. Wir haben hier in Bonn sehr viele Kolleginnen und Kollegen aus vielen Fachrichtungen, die sich mit der Vormoderne beschäftigen. Dabei setzt die Quellenüberlieferung für alle Fächer schon einen gewissen Schwerpunkt auf Macht und Herrschaft – egal, ob man zum Beispiel nach China, Japan oder nach Europa schaut. Chronisten und Geschichtsschreiber haben sich in ihren Berichten immer sehr auf die politische Herrschaft konzentriert, auch Kunstobjekte und archäologische Hinterlassenschaften haben sehr oft etwas mit Macht und Herrschaft zu tun. So haben wir über die Disziplinen hinweg einen gemeinsamen Nenner.
Haben Sie in Ihren bisherigen Forschungsarbeiten besondere Unterschiede zwischen den Kulturen festgestellt?
Zunächst hat uns eher überrascht, dass es eine ziemlich große Vergleichbarkeit gibt. Zum Beispiel hat sich in fast allen Herrschaftsordnungen ein Hofzeremoniell etabliert, weitgehend unabhängig von gegenseitiger Beeinflussung. Aber natürlich gibt es auch Unterschiede – in China und auch in Japan etabliert sich schon sehr früh eine zentrale Verwaltung, im Gegensatz zu Europa. Und da findet man dann auch ganz andere Formen des herrschaftlichen Zugriffs auf die Bevölkerung.
Was sind die Schwerpunkte im neuen Zentrum?
Im ausgelaufenen Sonderforschungsbereich 1167 „Macht und Herrschaft. Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive“ haben wir uns zunächst auf die Herrscherpersönlichkeit konzentriert. Das neue Zentrum knüpft an diese Forschungen an und dient der Ergründung vormoderner Herrschaftsordnungen. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf den Beziehungsgeflechten der Eliten und Herrschaftstragenden sowie auf deren Kommunikationsformen. Ein transkultureller und trans-historischer Ansatz prägen unsere Arbeit.
Welche Funktion hatten die Eliten in der damaligen Zeit?
Die Eliten sind eine Art kommunikatives Bindeglied zwischen den Herrschern und dem Volk. Die Kommunikation über größere Distanzen hinweg war in vormodernen Zeiten nicht so leicht zu bewerkstelligen wie heute, wo man auf dem Smartphone in Sekundenschnelle Nachrichten erhält. In der Vormoderne musste das alles mit den Mitteln der Zeit organisiert werden. Und damit kommen Eliten ins Spiel, die regional verankert sind, oder aber vom Hof aus in die Peripherie entsandt werden, um den Herrscher zu vertreten.
Sind die Eliten grundsätzlich dem Herrscher gut gesonnen?
Das Verhältnis von Herrschern und Eliten ist oft ambivalent. Einerseits benötigt ein Monarch oder eine Monarchin die Eliten zur Durchsetzung ihrer Herrschaft. So führt Standesdenken oft dazu, dass nur hohe Aristokraten die höchsten Positionen am Hof und in der Verwaltung eines Reiches einnehmen können. Diese Aristokraten verfolgen aber sehr oft ihre eigenen Interessen, sogar gegen den Herrscher. Dazu kommt, dass ehemals eigenständige Herrscher nach ihrer Unterwerfung in ihrer Position belassen werden und ihre Macht nun im Auftrag des obersten Herrschaftsträgers ausüben. In Asien, Europa, Afrika gibt es ein System der Nähe und Distanz zwischen der zentralen und den peripheren Herrschaftsbildungen, das oft auch über Eroberungen, über die Anerkennung von Oberhoheit, funktioniert. Der Kaiser von China versteht sich zum Beispiel mehr oder weniger als Mittelpunkt der gesamten Welt und sieht alle anderen Herrscher, egal wie weit weg, quasi in einem Abhängigkeitsverhältnis zu sich selbst. Und dann sind die Übergänge fließend, von mehr oder weniger autonomen Herrschern bis hin zu Statthaltern oder Leuten, die am Hof einflussreich waren. Und manchmal dreht sich das Verhältnis auch um, und der Herrscher wird von den Eliten völlig dominiert und zu ihrer Marionette.
Im neuen Zentrum blicken Sie auf Kommunikation als zentrales Element von Macht und Herrschaft. Was bedeutet das?
Es gibt im Prinzip überall diese Dreiteilung von Herrscher, Eliten und einfacher Bevölkerung – die Kommunikation in diesem Geflecht ist sehr zentral. Eine stabile Herrschaftsbildung ist eigentlich nur dann möglich, wenn diese Kommunikation auch stabil ist, sich auch immer wieder erneuert und an unterschiedliche Gegebenheiten anpasst. In unserer Forschung fragen wir uns zum Beispiel, wie Normen und Ideale für das Verhältnis von Eliten und Herrscherpersönlichkeiten ausgebildet werden und diese dann wiederrum kommuniziert und verbreitet werden, aber auch Kritik geübt wird. Unter anderem gehen wir der Frage nach, wie die Herrschergemahlin in das System eingebunden wurde. Je nach ihrer Herkunft kann sie als eine Art Sprachrohr für oppositionelle Eliten fungieren. Außerdem gibt es große kulturelle Unterschiede: In China werden periphere Herrscher am Hof fest in das gesamte System eingebunden.
Was davon findet man auch in den heutigen Königshäusern und in der Politik wieder?
Spannend sind zum Beispiel die geschlossenen Ratgeberkreise, die sich um oberste Herrschaftsträger bilden. In der vormodernen Herrschaftsordnung ist der Ratgeber eine sehr zentrale Figur. Heute ist von Küchenkabinetten die Rede, da natürlich auch demokratische Politikerinnen und Politiker Leute um sich versammeln, auf deren Rat sie hören. Dadurch bilden sich dann oft sehr schnell informelle Strukturen innerhalb von Bereichen, wo es eigentlich nur offizielle Strukturen geben sollte. Das sind Phänomene, die wir in der Vormoderne auch beobachten können. Und natürlich birgt das Konfliktpotenzial, wenn der Herrscher vielleicht eher auf einen Jugendfreund, seine Mutter oder Ehefrau hört und nicht auf diejenigen, deren hoher Rang ihnen ein meist formalisiertes Mitspracherecht gibt. Eine solche Macht der informellen Strukturen ist gar nicht vermeidbar, auch in Demokratien nicht. Denn letztlich agieren immer Menschen – und Menschen brauchen Vertrautheit, um Entscheidungen treffen zu können.
Wo sehen Sie bei all den Parallelen Unterschiede zu heute?
Na ja, heute sind die formellen Strukturen um die Mächtigen herum schon so ausgestaltet, dass keine reine Willkür herrschen kann. Aber reine Willkür gibt es in der Vormoderne – von Einzelfällen abgesehen – zumeist auch nicht. In unserer bisherigen Forschung konnten wir herausarbeiten, dass der Herrscher ganz unabhängig von seinen formalen Zuständigkeiten dafür sorgen muss, dass zumindest ein relevanter Teil der Bevölkerung mit ihm einverstanden ist. Denn gegen alle zu regieren, macht keinen Sinn. Von daher können wir eigentlich über alle Zeiten hinweg Strategien beobachten, die der Konsensbildung dienten.
Weil sonst Aufstände provoziert werden?
Das ist eine mögliche Folge – allerdings ist es wahrscheinlich schwieriger, einen hinhaltenden unterschwelligen Widerstand der Bevölkerung zu brechen, als einen erklärten Aufstand niederzuschlagen. Es geht letztlich darum, das Volk zum Mitmachen zu motivieren. Und das erreicht man natürlich oft auch, indem man den relevanten Personen innerhalb der Gesellschaft Versprechungen macht. Ihnen Geschenke, zum Beispiel Ländereien, gibt, um seine Ziele erreichen zu können. Militärische Machthaber, die auf das Element Gewalt setzen, kommen nicht sehr weit. Wenn man so will: Macht und Herrschaft ist Kommunikation und beruht auf Kommunikation.
Wie erreicht denn ein vormoderner Herrscher eine gute Kommunikation mit dem Volk?
Da sind die Strategien sehr unterschiedlich. Es gibt einerseits Herrscher, die vergleichsweise engen Kontakt zum Volk suchen und – etwa wie im mittelalterlichen Europa – ständig herumreisen und überall präsent sind. Ein Herrscher sucht die Nähe zu seinen Leuten, um ihnen zu zeigen, dass er da ist und real existiert. Aber es gibt auch das genaue Gegenteil – etwa in China, wo der Herrscher in seinem Palast verweilt und sich dort fast nie wegbewegt. Da sind die Möglichkeiten und die Kommunikationsformen sehr unterschiedlich. Aber beides kann funktionieren, es kommt auf das jeweilige Geschick an. Und wie wichtig Geschick ist, können wir ja letztlich auch bei Politikern in demokratischen, modernen Gesellschaften beobachten.
Wäre es für die Analyse heutiger Demokratien sinnvoll, historische Zusammenhänge mehr in den Blick zu rücken?
Ja, weil in vielen Gesellschaften Demokratien in derselben Form wie in Europa entwickelt worden sind. Allerdings wird man unser Modell vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte nie eins zu eins auf andere Gesellschaften übertragen können, sondern die dort gewachsenen Strukturen auch mit einbeziehen müssen. Bereits in eng benachbarten Staaten wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien haben sich die demokratischen Staatsordnungen sehr unterschiedlich entwickelt – von Indien oder Japan ganz zu schweigen. Das hängt mit dem Zeitpunkt der Demokratisierung zusammen, aber auch mit der Frage, ob sich ein Zentralstaat ausgebildet hat oder ob sich eher föderale Strukturen ausgebildet haben. Diese gewachsenen Unterschiede sind bedingt durch die jeweiligen tiefen Strukturen der Gesellschaften. Und diese tiefen Strukturen müssen noch besser analysiert werden, um auch das Miteinander im Hier und Heute besser zu verstehen.
Was möchten Sie Menschen außerhalb der Wissenschaft über Ihre Forschung erzählen?
Das Interesse an der Vormoderne ist ungebrochen, ob in der Sinologie, der Ägyptologie oder ganz grundsätzlich in den Sprach-, Kunst,- Objekt,- oder Textwissenschaften. Im Gespräch mit der Öffentlichkeit ist es unser Ziel, die Vormoderne aus diesem etwas romantisierenden oder auch schaudernden Blick herauszuholen. Die Bilder, die durch Geschichten und Medienbeiträge hervorgerufen werden, entsprechen häufig einer Art historischer Folterkammer. Diesen Blick wollen wir weiten und zeigen, dass die Vergangenheit auch eine aktuelle Relevanz hat. Natürlich kann man aus der Geschichte nicht eins zu eins lernen. Aber wer sich mit vormodernen Verhältnissen oder der Geschichte allgemein auseinandersetzt, wird auch anders an aktuelle Probleme herangehen. Denn: Vergleichbare Situationen hat es schon früher gegeben, und die haben auch zu Problemlösungen geführt. Diese Art und Weise, wie man Problemlösungen findet –, daraus kann man schon lernen.
Gibt es eine konkrete Fragestellung, die Sie persönlich in den kommenden Jahren gerne beantworten möchten?
Wir verfolgen ein Projekt über die Mitwirkung von besonders herausgehobenen Eliten an der Herrschaftsausübung, betrachten also elitäre Personen, die sich zwischen Herrscher und die „normalen“ Eliten schieben. Denn diese Tendenzen gibt es auch. Ich persönlich finde es sehr spannend, wie es bestimmte Personenkreise schaffen, andere Eliten in die Abhängigkeit zu bringen und dabei auch den Zugang zum Herrscher zu monopolisieren, sodass sie die einzigen sind, die mit ihm kommunizieren dürfen.