Chemnitz im August 2018: Der Bonner Student Marcel Müller und seine Freund:innen verfolgen, wie rechtsextreme Gruppen gewaltsam gegen tatsächliche oder vermeintliche Migrant:innen, Polizist:innen, Pressevertreter:innen und Gegendemonstrant:innen vorgehen. Sie nehmen am Protestkonzert teil, aber fühlen, dass das nicht reicht. „Die Hetzjagd in Chemnitz und die Reaktionen anderer radikaler Gruppierungen haben uns klargemacht, wie überrepräsentiert die Ränder unserer Gesellschaft in der Öffentlichkeit sind“, sagt Müller von der Universität Bonn. Sein Freund Julian Krauskopf, Student der RWTH Aachen, fügt hinzu: „Wir waren schockiert über so viel Hass – in einer toleranten Gesellschaft mit den richtigen Grundwerten.“
Zurück zu Hause in Bonn und Aachen: Die Freund:innen schauen Nachrichten, lesen Artikel und diskutieren. Wie konnte es zu den Ausschreitungen in Chemnitz kommen? Was zeichnet die Mitte der Gesellschaft aus? Und was kann sie verbinden?
„Die Mitte der Gesellschaft hat kein Erkennungszeichen, sie ist pluralistisch, aber sie vertritt gemeinsame Werte“, sagt Krauskopf. „Deutschland hat eine der besten Verfassungen der Welt, die für viele andere Länder als Vorbild gilt.“ Für die 20- bis 25-Jährigen steht fest, dass sie die Werte der Gesellschaft stärken wollen.
Nächste Generation mit den Grundwerten vertraut machen
Ein halbes Jahr später im Februar 2019: Die Studierenden gründen den gemeinnützigen Verein „Schlüssel zur Gesellschaft e.V.“. Marcel Müller, Julian Krauskopf und fünf weitere Freund:innen der Universitäten Bonn und Köln, der RWTH Aachen und der HSBA Hamburg wollen etwas bewirken. „Uns ist es wichtig, dass wir alle Gesellschaftsschichten erreichen und vor allem die nächste Generation mit unseren Grundwerten vertraut machen“, sagt Krauskopf.
So entsteht die Idee. Die Studierenden aus den Bereichen Chemie, Humanmedizin, Agrarwissenschaften, Wirtschaftsingenieurwesen, Rechtswissenschaften und International Business Administration wollen ein Kinderbuch entwickeln. „Ein Buch, das den Kindern auf spielerische Weise die Grundrechte näherbringt, gab es noch nicht“, erzählt Leah Eitelberg, Alumna der Universität Bonn. „Wir wussten nicht, wie ein Kinderbuch produziert wird. Deswegen war es uns wichtig, dass ein professioneller Lektor das Buch begleitet. Die Geschichte sollte nicht nur uns gefallen.“ Die Freund:innen finden einen Lektor über die sozialen Medien. An einen Verlag verkaufen wollen sie das Buch nicht: „Uns geht es nicht um den wirtschaftlichen Erfolg, sondern um die Wirkung des Buches. Durch Spenden- und Preisgelder war es uns möglich, das komplette Projekt wirtschaftlich unabhängig zu verwirklichen“, sagt Müller.
Die Gruppe teilt sich die Aufgaben: Leah Eitelberg und Marcel Müller beispielsweise sprechen mit Grundschullehrer:innen über ihre Idee, Julian Krauskopf organisiert den Druck, Fabian Haedge von der RWTH Aachen ist der kreative Kopf. Aber wie schreibt man eigentlich ein Kinderbuch? „Fabian hat die Kinderbücher in der Bibliothek studiert, abends kam er zurück in die WG und meinte, ‚Kinderbücher sind wahnsinnig brutal‘“, erinnert sich Julian Krauskopf.
Kinderbuch und Lehrerhandreichung zum Herunterladen
Ein gutes Jahr später, im November 2020, halten die Studierenden ihr selbst verlegtes Buch in den Händen. „Abenteuer mit Gigi – Ben und Mia entdecken die deutschen Grundrechte“ heißt es. Abgebildet ist eine professionelle und kreative Version des Bundesadlers. „Das ist Gigi, der Name ist angelehnt an das GG, das Grundgesetz“, sagt Marcel Müller. Gigi erklärt den Kindern Ben und Mia in verschiedenen Situationen ihrer Abenteuersuche gesellschaftliche Werte: Jeder darf sich frei bewegen, niemand darf das Zuhause anderer zerstören, und ein Brief darf von anderen Personen nur mit Erlaubnis geöffnet werden.
Juni 2021: Eigentlich hätten die Studierenden die Bücher gerne schon an den Schulen gewusst, eine Lehrerhandreichung steht zum Herunterladen bereit. „Uns ist klar, dass in den Monaten des Lockdowns unser Buch keine hohe Priorität hat. Aber das Interesse besteht und das Buch ist zeitlos und wird seine Bedeutung nicht verlieren“, sagt der Bonner Chemiestudent Marcel Müller.
Wenn die Studierenden ein paar Jahre in die Zukunft denken, dann sehen sie einen Verein, der aus 50 oder 100 Mitgliedern besteht. „Wir vertreten bereits verschiedene Denkweisen“, sagt Leah Eitelberg. „Aber wir wollen auch Menschen außerhalb der Universität von unserem Verein begeistern.“ Die Studierenden sind sich sicher, dass das gelingen wird: „Wir sind sehr optimistisch ausgerichtet“, sagt Marcel Müller. „Wir wollen das, was da ist, stärken und der Mitte der Gesellschaft eine Stimme geben“.