18. März 2025

Schulklasse im Strategiefieber Schulklasse im Strategiefieber

Geschichtsdidaktik konzipiert Planspiel zum Kalten Krieg

Eine Reise zurück in die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg: US-Präsident Harry S. Truman umreißt in einer Kongress-Rede, wie sich die Expansion der Sowjetunion aufhalten und der Kommunismus eindämmen lassen. In diese Richtung zielt auch der Marshallplan, der der Wirtschaft in Europa wieder auf die Beine helfen soll. Drohte ein sowjetischer Angriff auf Westeuropa? Was ließ sich dagegen unternehmen? Turbulente Zeiten, die aus historischer und strategischer Sicht gleichermaßen interessant sind. 

In der Diskussion:
In der Diskussion: - Schülerinnen und Schüler während des Workshops. © Foto: Friedrich Stiftung
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Diesen Zeitsprung vollziehen Schülerinnen und Schüler der 11. Klasse eines Nürnberger Gymnasiums in einem Workshop, der von Prof. Dr. Peter Geiss und Victor Söll von der Abteilung für Didaktik der Geschichte der Universität Bonn zusammen mit der Friedrich Stiftung durchgeführt wird. Es handelt sich um ein Planspiel, bei dem die Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage historischer Quellen die Rolle strategischer Berater des amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman übernehmen. Für kurze Zeit verwandelt sich dazu der Veranstaltungsort, das Haus Annaberg bei Bonn, in das Washingtoner State Department von 1946/47, wo die Gruppe vor einem fiktiven Termin beim Präsidenten tagt. Wie positionieren sich die Teilnehmenden strategisch? Was werden sie Truman empfehlen? Letztlich geht es darum, einen Weg zu finden, wie das Ziel eines demokratischen Europas angesichts der Bedrohungen durch den sowjetischen Totalitarismus erreicht werden kann.

„Strategische Fragestellungen kommen bislang im deutschen Geschichtsunterricht trotz ihrer erheblichen Gegenwartsrelevanz kaum vor“, sagt Geiss. Eine Lücke, die nun mit einem neuen Ansatz geschlossen werden soll. Dazu konzipierte der Wissenschaftler den Ansatz des „strategiesensiblen Geschichtsunterrichts“, den er nun gemeinsam mit Victor Söll und einem Team im Workshop für eine schulische Lerngruppe erstmals erprobt hat. Das Material soll Lehrkräfte dabei unterstützen, mit begrenztem Vorbereitungsaufwand, kleinere Module zum strategischen Denken in den Geschichtsunterricht einfließen zu lassen oder ein eigenständiges Lernprojekt umzusetzen. „Die Vorschläge sollen daher sehr konkret und umsetzungsorientiert gehalten werden“, sagt Geiss.

Es geht darum, in einem Planspiel mit kühlem Kopf strategische Schlüsselfragen gemeinsam zu klären, etwa nach dem Verhältnis von militärischer Stärke und Diplomatie sowie zu Abschreckung und Risiken nuklearer Eskalation. „Ziel ist es dabei gerade nicht, aus der Vergangenheit direkte Antworten für heute zu gewinnen“, macht Geiss deutlich. „Die Strategiedebatten der späten 1940er und 1950er Jahre sollen vielmehr als ein für sich selbst stehendes `Übungsmaterial´ behandelt werden.“ Dabei gehe es nicht um direktes Anwendungswissen, das sich in aller Regel nicht so einfach aus der Geschichte ableiten lasse, sondern um strategische Reflexion, aber auch um den Umgang mit Dilemmata. Wichtig sei in der Demokratie immer auch die ethische Dimension: Strategisches Denken kann Geiss zufolge in einer Gesellschaft, die Frieden, Freiheit und Menschenrechten verpflichtet ist, nicht auf das kalte und egoistische Abwägen von Vor- und Nachteilen reduziert werden. Zugleich müssten ethische Orientierungen in der strategischen Reflexion immer auch in ein Verhältnis zu konkreten Handlungsoptionen, Durchsetzungsmitteln und Risiken gesetzt werden, ohne deren Berücksichtigung sie nicht in verantwortliche Politik übersetzt werden und nachhaltig wirken könnten.

Das auf diese Weise eingeübte strategische Wissen sei gerade auch heute von großer Bedeutung. „In der Demokratie kann strategisches Denken nicht allein die Domäne von Expertengremien sein“, ist Geiss überzeugt. „Dieses Denken muss vielmehr eine breitere Grundlage in der wahlberechtigten Bevölkerung finden.“ Vielleicht gehören die Teilnehmenden später selbst sogar zum Kreis der sicherheitspolitischen Entscheiderinnen und Entscheider.

„Ich fand den Workshop sehr spannend, auch weil ich vorher wenig Berührungspunkte mit dem Thema `Kalter Krieg´ hatte“, sagt ein Schüler, der an dem Workshop teilgenommen hat. „Es hat sehr viel Spaß gemacht.“

Die im Workshop entwickelten und erprobten Arbeitsmaterialien auf den Seiten der Friedrich Stiftung: https://erhard-friedrich-stiftung.de/generation_zukunft_strategisches_denken/1

Fragen an Prof. Dr. Peter Geiss:

Warum gerade 1947?
Für 1946 und Anfang 1947 sprach die Entscheidungsoffenheit der Situation: Damals war noch nicht klar, welche Rolle die USA in Europa übernehmen würden. Ein neuer Isolationismus wie nach dem Ersten Weltkrieg war zwar wenig wahrscheinlich, aber Art und Ausmaß des amerikanischen Engagements standen noch nicht fest. Das konkretisiert sich dann 1947 mit der Truman-Doktrin und dem Marshallplan. Hier liegen die Wurzeln einer stark von den USA mitgeprägten europäischen Ordnung, deren transatlantischer Sicherheitsrahmen über den Kalten Krieg hinaus bis heute besteht, auch wenn wir gegenwärtig nicht sagen können, ob und in welchem Umfang dies weiterhin der Fall sein wird. Auch diese gegenwärtigen Unsicherheiten machen es interessant, an die Wurzeln zurückzukehren – und zur Abwechslung einmal zu versuchen, eine amerikanische Außenperspektive auf unseren Kontinent zu richten.

Wie haben die Schülerinnen und Schüler das Planspiel aufgenommen?
Die Schülerinnen und Schüler haben sich sowohl in der vorbereitenden Quellenanalyse als auch in der Diskussion in Form der Simulation einer Arbeitssitzung im amerikanischen State Department stark engagiert. Wir waren überrascht davon, wie konsequent sie ‚am Ball‘ geblieben sind und wie differenziert und zugleich schlagfertig sie die strategischen Positionen mit ihren eigenen Worten vorgebracht haben.

Wie lautet zum Beispiel eine konkrete Aufgabe?
Es wurden drei Gruppen gebildet, die im Planspiel unterschiedliche strategische Konzepte für den Umgang mit der sowjetischen Bedrohung in Europa zu vertreten hatten: Die auf „Eindämmung“ („Containment“) setzende Strategie des Diplomaten George F. Kennan, die neben wirtschaftlichen und politischen auch militärische Machtmittel einschloss, die Position seines Kritikers Walter Lippmann, der Europa vor allem wirtschaftlich stärken und zur Selbstverteidigung befähigen wollte, um nicht dauerhaft US-Truppen dort zu binden, und ein drittes Konzept des damaligen US-Handelsministers Henry A. Wallace, der vor allem auf eine friedliche Verständigung und wirtschaftliche Verflechtung mit der Sowjetunion setzte und vor einem Konfrontationskurs mit atomarem Eskalationsrisiko warnte. Die Schülerinnen und Schüler haben sich diese Positionen auf der Grundlage ausgewählter historischer Quellen so erarbeitet, dass sie Argumente in der Diskussion aktiv vertreten konnte. 

Was kam dabei heraus?
Auf dieser Grundlage wurde dann eine Arbeitssitzung im State Department simuliert, in der die drei Gruppen die Aufgabe hatten, in einem kontroversen Beratungsprozess strategische Empfehlungen für den US-Präsidenten Harry S. Truman auszuarbeiten. Dabei standen – der Quellenlage entsprechend – sehr unterschiedliche Optionen im Raum, zugleich erzeugte die Vorstellung eines bevorstehenden Termins im Weißen Haus Einigungsdruck, denn der Präsident erwartet natürlich keine akademischen Diskussionen, sondern ein klares Handlungskonzept …

Was war die größte Herausforderung für die Beteiligten?
Wie von uns vermutet, haben uns die Schülerinnen und Schüler rückgemeldet, dass sie das Quellenmaterial etwas zu umfangreich und teilweise auch komplex fanden – obwohl sie im Ergebnis doch sehr souverän mit den Schwierigkeiten umgegangen sind. Wir haben diese Rückmeldung bei der Bearbeitung des Materials für die Online-Veröffentlichung zusammen mit der Friedrich Stiftung berücksichtigt. 

Sind die jungen Menschen ins kalte Wasser gesprungen oder wurden Sie auf den Workshop vorbereitet?
Der frühe Kalte Krieg ist in Deutschland ein klassisches Unterrichtsthema, weil er zum Beispiel für das Verständnis der deutschen Teilung wichtig ist. Insofern gibt es schon aus der Sekundarstufe I Wissensbestände dazu. Wir haben den Workshop allerdings durch eine inhaltliche Einführung so aufgebaut und auch das Material so gestaltet, dass die erforderlichen Kontextinformationen überwiegend ‚mitgeliefert‘ wurden. 

Haben die Schüler auf Anhieb verstanden, was eine Strategie ist und wie sie sich konzipieren lässt?
Ich denke schon. Der Strategiebegriff ist ja auch im Alltag sehr verbreitet – zum Beispiel auch in der Schule, wo oft von „Lernstrategien“ die Rede ist. Daran anknüpfend ist es nicht schwer, den Schülerinnen und Schülern den Strategiebegriff auch für den Kontext der internationalen Politik zu erklären.

Wie geht es weiter?
Wir werden nun die im Workshop dokumentierten Arbeitsprozesse und Diskussionen systematisch analysieren und sehen, wie wir das Konzept des strategiesensiblen Lernens im Fach Geschichte weiterentwickeln und vielleicht noch weitere Angebote dazu erarbeiten können. Auf die Ergebnisse sind wir sehr gespannt.

Wie lassen sich die Expansion der Sowjetunion und der Kommunismus eindämmen?
Wie lassen sich die Expansion der Sowjetunion und der Kommunismus eindämmen? - Dieser Frage aus dem Kalten Krieg widmeten sich die Workshop-Teilnehmenden. © Foto: Friedrich Stiftung

Seit April 2013 ist Peter Geiss Professor für Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichtswissenschaft an der Universität Bonn. In den Jahren 2004 bis 2010 unterrichtete er die Fächer Geschichte und Französisch am Friedrich-Ebert-Gymnasium der Stadt Bonn und war dann von 2011 bis 2013 in der geschichtsdidaktischen Lehrerbildung der Universität Wuppertal tätig. 

Prof. Dr. Peter Geiss
Didaktik der Geschichte
Universität Bonn
Tel. 0228/735177
E-Mail: geiss@uni-bonn.de

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