Was macht August Wilhelm Schlegel so bedeutsam für die Philologie?
August Wilhelm Schlegel verstand Sprache zugleich als universales Kommunikationsmittel und als Inbegriff von Diversität: Sprache konkretisiert sich in Pluralität, in Sprachen und Schriften, die in ihrer geographischen Mobilität und historisch nachhaltigen Wirkung immer auch übersetzungsbedürftig und übersetzungsfähig sind. Übersetzt hat Schlegel viel: italienische, spanische, portugiesische, griechische, altnordische, indische Literatur – und einen Shakespeare, der in Schlegels Übersetzung zum „deutschen“ Klassiker avancierte. Doch Schlegels Übertragungsarbeit beschränkte sich nicht auf Wörter, sondern griff konsequent auch auf Kulturen aus, auf antike und mittelalterliche, nordische, romanische und orientalische Lebenswelten, die er untereinander und mit seiner Gegenwart in Dialog brachte – im Medium der Literatur. Schlegels umfassende Vermittlungspraxis operierte als ‚Philo-logie‘ im Wortsinn: nicht in erster Linie als Lehre wie in anderen disziplinären ‚-logien‘, sondern als Liebe – phílos – zum Wort selbst, das als lógos auch das Denken und die Vernunft anleitet.
Wie hat Schlegel die Universität Bonn geprägt?
Wir feiern in diesem Jahr das 200-jährige Jubiläum von Schlegels Wahl zum Rektor der Universität Bonn. Als er an die damals neugegründete preußische Reformuniversität am Rhein berufen wurde, war er ein international gefeierter Forscher, dessen öffentliche Vorträge in Berlin und Wien zuvor Publikumsmagneten gewesen waren und im Unterschied zu universitären Vorlesungen, die den Männern vorbehalten waren, auch eine weibliche Hörerschaft angezogen hatten. In Bonn führte Schlegel nicht nur einen gewissen Glamour in die Vorlesungspraxis ein – er fuhr mit der Kutsche vor und ließ sich von Lakaien in Livree bedienen – und gründete mit der Antikensammlung das erste Museum der Stadt. Darüber hinaus wusste er seine akademischen Strahlkraft in einer Weise zu nutzen, die Bonn auch zum Leuchtturm für die internationale Wissenschaft machte: Im Zuge seiner Bonner Berufung ließ er die erste Druckerei für indische Schrift auf deutschem Boden einrichten, um der europäischen Gelehrtenwelt die hinduistischen Klassiker mit lateinischer Übersetzung zugänglich zu machen – eine Pionierleistung philologischer Forschung und interkultureller Verständigung! Dieses Engagement illustriert eindrücklich, wie konsequent Schlegel das Prinzip der Universalität von der Diversität her begriffen und welche entscheidende Funktion er dabei der Universität zugedacht hat. Sie war der prädestinierte Ort für sein im Wortsinn polyglottes Projekt. Heute an der Uni Bonn stark vertretene Philologien wie die Germanistik, die Romanistik und die Anglistik verdanken Schlegel entscheidende Wegweisungen; die Komparatistik, also die vergleichende Literatur, wie auch die vergleichende Sprachwissenschaft, hat Schlegel lange schon betrieben, bevor diese Fächer zu eigenen Disziplinen geworden sind. Umso bedauerlicher aber, dass die von Schlegel mitbegründete und in Bonn samt Druckerei etablierte Indologie heute nicht mehr hier vertreten ist.
Was können wir aus Schlegels Umgang mit Diversität lernen?
Die Anerkennung von Pluralität als Grundvoraussetzung und Bedingung möglicher Universalität ist eine zentrale Lehre aus Schlegels Forschungs- und Übersetzungspraxis, untrennbar verbunden mit der Erkenntnis, dass Literaturen und Künste dabei die alles entscheidenden Vermittlungsmedien sind. Weltverständnis und -verständigung gelingt allein auf Basis einer fundierten Kenntnis anderer Lebenswelten, Kulturen und Sprachen in Vergangenheit und Gegenwart. Nur sie bewahrt uns vor der Tendenz, den eigenen Erfahrungs- und Denkhorizont für alternativlos zu halten und zur universellen Norm zu erklären. Eben diese Kenntnis vermitteln wir als Philologinnen und Philologen, und unterstreichen damit auch die welt- und gesellschaftspolitische Relevanz der Sprach- und Literaturwissenschaften gerade in ihrer Vielfältigkeit. Zudem hat Schlegels Kosmopolitismus den lokalen Radius seiner Wirkungsstätten stets deutlich überschritten. Think global – das wäre eine Maxime, die er immer schon berücksichtigt hat. Dieses radikale Projekt einer von der Diversität her begriffenen Universalität, die an der Universität ihren genuinen Ort haben soll, ist nicht nur das Erbe August Wilhelm Schlegels, sondern es bleibt Auftrag und brisanter Impuls.