Wie kam der empirische Sozialwissenschaftler dazu, Antisemitismus und Kinderschreckgeschichten zu untersuchen? Das hängt mit Erinnerungen an seine Kindheit zusammen. Im Zaanstreek in den Niederlanden zwischen Grün und Windmühlen aufwachsend, verbrachte Robert Braun selbstvergessen viel Zeit im Freien. „Meine Eltern machten sich immer wieder Sorgen, dass ich nicht rechtzeitig zum Abendessen zurückkommen oder mich ganz verirren könnte“, erzählt der Wissenschaftler. „Um sicherzugehen, dass ich mich nicht zu weit von zu Hause entfernte, warnten sie mich oft vor dem `Mann mit der Fliege´.“
Diese imaginäre Figur wohnte angeblich in einer nahe gelegenen Mühle. Wenn sich der Junge über eine bestimmte Grenze hinaus bewegt, würde der „Mann mit der Fliege“ kommen und ihn in den Brunnen werfen, so versicherten die Eltern. „Ich war schnell bereit, dem Wunsch meiner Eltern nachzukommen“, sagt Braun. Es sei nicht zu unterschätzen, welchen Einfluss dieses Märchen auf seine kognitive Entwicklung nahm. „Jedes Mal, wenn ich auf dem Campus oder einer Konferenz-Rolltreppe an einer Person mit Fliege vorbeikomme, werden für Sekundenbruchteile meine primitivsten Abwehrmechanismen aktiviert.“
Im 19. und 20. Jahrhundert weit verbreitet
Die Erzählstrategie der Eltern mag heute pädagogisch unverantwortlich erscheinen, aber sie sei in Nordmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert weit verbreitet gewesen, so der Forscher. Sprachwissenschaftler bezeichnen diese Art von Geschichten als Kinderschreck, eine mündliche Erzähltradition, die von Eltern eingesetzt wurde, um Kinder durch das Auslösen von Angst zu disziplinieren. Der Aufbau der Kinderschreck-Geschichten sei kurz und einfach und umfasse nur zwei Komponenten: einen räumlichen Ort und ein Schreckgespenst. „Die Eltern sagten ihren Kindern, sie sollten sich von einem bestimmten Ort – etwa einem Gewässer, einem Park oder einer Straße – fernhalten, weil sonst ein Butzemann wie zum Beispiel `der mit der Fliege´ kommen und sie holen würde“, sagt Braun.
In den Kinderschreck-Märchen würden häufig eher unschuldige Fantasiefiguren oder Tiere dargestellt. Aber in einigen Dörfern verwendeten die Butzemänner ethnische Stereotypen, die eine Reihe von eingebildeten Feinden widerspiegelten, die die lokalen Gemeinschaften angeblich bedrohten. „Das beste Beispiel dafür sind die Geschichten, in denen antisemitische Schreckgespenster wie der `Waldjude´, der `Blutjude´ oder der `wandernde Jude´ vorkommen“, berichtet der Soziologe. „Das Hauptziel des Forschungsprojekts besteht darin, herauszufinden, wo und wann bestimmte Schreckgespenster auftauchten und wie sie die Einstellungen und letztlich die gesellschaftliche Ordnung prägten.“
Ethnische Feindbilder
Den Mann mit der Fliege werde er immer bei sich tragen, bekennt der Wissenschaftler. „Das Gleiche gilt für die ethnischen Feindbilder, denen die Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert ausgesetzt waren“, sagt er. Indem er darstellt, wo im 19. Jahrhundert Feindbilder auftauchten, hofft er zu erhellen, wie die Menschen heute über Feindbilder denken. Der Forscher will herausfinden, wie viele der fremdenfeindlichen Schreckgespenster, die von den Rechtsextremen in der heutigen Gesellschaft verbreitet werden, mit den früheren Feindbildern verbunden sind.
Analyse in Archiven
Der Wissenschaftler benutzt hauptsächlich die Archive, die von den Volkskundlern in Bonn zwischen 1930 und 1980 zusammengestellt wurden. „Insbesondere stütze ich mich auf Aufzeichnungen aus dem Atlas der Deutschen Volkskunde (ADV), der in den 1930er Jahren erstellt wurde“, sagt Braun. Dieses gigantische Datensammlungsprojekt versuchte, die Überlieferung mündlicher Traditionen durch die Erhebung mit einem Fragebogen zu erfassen, der in etwa 20.000 Dörfer im Deutschen Reich und angrenzenden Regionen ausgesandt wurde. Der Fragebogen enthielt 243 Fragen zu bäuerlichen Arbeits- und Lebensweisen, Glaubensformen, sozialen und kulturellen Normen, Geschlechterrollen, Festen oder auch populären mündlich tradierten Erzählmotiven. Beantwortet wurde er durch so genannte „Gewährspersonen“. Dies waren zumeist Angehörige der ländlichen Elite, also Geistliche, Lehrer oder auch bürgerliche Amtsträgerinnen und -träger. Knapp vier Millionen Antwortkarten lagern im Archiv. „Der AdV umfasst einen der größten ethnografischen Datenbestände in Europa für die Zeit um 1900 und ist in dieser Form absolut einzigartig“, sagt Prof. Dr. Ove Sutter. „Das Projekt spielte für die Ausbildung der Volkskunde als Vorgängerdisziplin der Empirischen Kulturwissenschaft zur wissenschaftlichen Disziplin eine herausragende Rolle. Ebenso bedeutend war es für die Internationalisierung des Faches ab 1950. “
Prof. Robert Braun kombiniert große statistische Analysen mit einer eingehenden Untersuchung der verschiedenen Geschichten. „Ich verwende den Atlas der Deutschen Volkskunde, um herauszufinden, wo und wann Geschichten auftauchen“, berichtet er. Dann verknüpft er dies mit historischen Abstimmungs- und Umfragedaten, um historische Zusammenhänge herzustellen. „Die eingehende Analyse spezifischer Geschichten ermöglicht es mir zu erkennen, wie bestimmte Akteure vor Ort die Art des Geschichtenerzählens verändert haben.“ Voraussichtlich in zwei Jahren will Robert Braun die Ergebnisse seiner Forschung veröffentlichen.