In der Werbung, im Journalismus und auch in der Wissenschaftskommunikation – überall scheint man im Moment auf Storytelling zu setzen, einen narrativen Stil mit häufig starkem Personenbezug. Protagonisten sind ohnehin populär. „Die Superhelden der Geschichte: Von Odysseus bis Mandela“ heißt eine Serie auf ZDF History. Ist Ihre neue Schriftenreihe so gesehen Teil eines Trends?
Ich habe die Serie tatsächlich auch geschaut, oder Teile daraus zumindest. Ich finde diesen Ansatz sehr interessant, der in den Medien verfolgt wird. Und in gewisser Weise haben Sie recht, dass sich die Reihe auch in einen solchen Trend einordnen lässt. Sie möchte aber viel mehr sein. Sie möchte nicht populärwissenschaftlich das Leben von Helden und Heldinnen erzählen, sondern sie möchte eigentlich mehr das Ganze, wenn man so möchte, wissenschaftlich begleiten und unterfüttern. Wir versuchen also nicht, auf einen Zug aufzuspringen, auch wenn der zurzeit ziemlich rasant fährt, sondern wir versuchen vielmehr, auch zu lenken.
Sie schreiben in Ihrem Sammelband, dass der personenbezogene Ansatz durch seine Orientierung am handelnden Individuum eine große Lebhaftigkeit erreiche. Wie schaut die Wissenschaft personenfokussiert auf ihren Gegenstand, und was hofft sie dabei zu sehen, was ihr sonst vielleicht entginge?
Der personenbezogene Ansatz der Politikwissenschaft und der Zeitgeschichte ist einer von mehreren. Es gibt ja auch andere Ansätze, die sich eher Strukturen, vielleicht auch eher Systemen oder Prozessen widmen. Der personenbezogene Ansatz erhebt, das sei vorab schon einmal gesagt, keinen Alleinerklärungsanspruch. Aber er hat gewisse Vorteile. Und zu denen zählt sicherlich auch die Lebhaftigkeit oder Lebendigkeit, die natürlich mit dem Fokus auf Personen aus Fleisch und Blut einhergeht. Das sind teilweise Dramen, die auch von Shakespeare sein könnten, die wir dann nachvollziehen können.
Ihr Ansatz basiert dabei auf bestimmten Grundannahmen. Welche sind das?
Da ist zunächst die grundsätzliche ontologische Überzeugung, dass Personen Einfluss haben auf Weltgeschichte und -politik. Das ist die Grundannahme, dass es eine Rolle spielt, wer zu einer bestimmten Zeit ein bestimmtes Amt innehat. Wenn wir diese Grundannahme teilen, dann können wir schnell zu einer zweiten Annahme kommen und sagen: Die Person ist dafür verantwortlich, aus zur Verfügung stehenden Optionen auszuwählen, und diese Auswahl ist bedingt durch die Persönlichkeit, durch den Charakter, die Sozialisation und die eigene politische Einstellung. Das sind die zwei Kernannahmen, die sich dann weiter ausdifferenzieren lassen.
Zum Beweis der Relevanz des personenbezogenen Ansatzes verweisen Sie gleichsam auf die Gegenprobe, das kontrafaktische Gedankenspiel der Frage: Was wäre, wenn? Was wäre gewesen, wenn eine Person gar nicht (oder doch) dabei gewesen wäre?
Das ist ein sehr interessantes und gleichermaßen umstrittenes Instrumentarium der Geschichtswissenschaft und auch der Politikwissenschaft, diese Frage: Was wäre, wenn? Es gibt ein großes Risiko, dass das abdriftet in pseudowissenschaftliche Überlegungen bis hin zu Science-Fiction, dass man sich loslöst von historischen Tatsachen und Belegen. Aber manchmal kann man sich, ohne dass viel Phantasie nötig wäre, beispielsweise vorstellen, dass eine bestimmte Person zu einer bestimmten Zeit gar nicht im Amt gewesen wäre.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Während der Kubakrise im Oktober 1962 wäre ein anderer US-Präsident als John F. Kennedy durchaus denkbar gewesen. Sein Vorgänger, Eisenhower, hätte noch eine weitere Amtszeit haben können, wenn die Zahl der Amtszeiten nicht erst ein paar Jahre zuvor durch einen Verfassungszusatz auf zwei begrenzt worden wäre. Oder sein Nachfolger, Johnson, hätte früher ins Amt kommen können – entweder weil er schon gewählt wurde, Kennedy war durchaus umstritten, oder auch wenn das Attentat nicht im November 1963 auf Kennedy verübt worden wäre, sondern schon vor der Kubakrise.
Und eine andere Person hätte womöglich anders gehandelt?
Es gibt sehr gute Belege dafür, dass etwa Eisenhower anders entschieden hätte. Kennedy hat während der Krise mit ihm gesprochen, die beiden haben telefoniert. Und Eisenhower hat gesagt: „Ich folge dem nicht, was Sie mir sagen, Mr. President, ich würde anders entscheiden. Die Sowjets machen eh, was sie wollen. Fürchten Sie sich nicht vor möglichen Gegenmaßnahmen gegenüber Berlin.“ Das heißt, hier gibt es gutes und recht belastbares Beweismaterial, dass der Einzelne eine Rolle spielt, dass ein anderer, der sich in diesem Amt hätte befinden können, anders entschieden hätte. Und die Folgen eines aggressiveren Vorgehens hätten gerade im Fall der Kubakrise fatal ausfallen können, bis hin zu einem Atomkrieg zwischen den Supermächten.
Der personenbezogene Ansatz, so heißt es in Ihrem Band, habe lange Zeit ein „Schattendasein“ geführt. Welche Methoden hatten ihn denn aus welchem Grund in den Schatten gestellt?
Der personenbezogene Ansatz hat eine sehr lange Tradition. Eigentlich hat die Geschichtswissenschaft sogar ihre Wurzeln in einem personenbezogenen Ansatz und ist auch aus diesem Ansatz heraus zu verstehen. Spätestens mit den Weltkriegen, vor allem mit dem Zweiten Weltkrieg, sind solche personenbezogenen, vielleicht kann man sogar sagen personenfixierten Erklärungsmuster allerdings in den Hintergrund getreten. Es folgten eher strukturelle oder gesellschaftsgeschichtliche Ansätze, die das Individuum abzulösen schienen. Es ist kein weiter Weg von einem Personenfokus zu einem „überhitzten Heroenkult“, wie der Bonner Politikwissenschaftler Hans-Peter Schwarz das einmal ausgedrückt hat. Das heißt, man wurde sehr kritisch gegenüber solchen Führungs- und Führerpersönlichkeiten, natürlich auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Diktaturen, insbesondere der faschistischen Diktaturen in Italien und in Deutschland.
Eine zentrale Metapher bei Ihnen lautet: „Spielfeldbegrenzungen“.
Innerhalb derer könnten die handelnden Persönlichkeiten unter verschiedenen vorhandenen Optionen auswählen. Was meinen Sie damit?
Das ist so ein bisschen unser Versuch, eine Synthese zu ermöglichen zwischen auf der einen Seite: Akteure und Personen erklären alles, und auf der anderen Seite: Strukturen bestimmen alles. Wir hängen keiner dieser beiden extremen Positionen an, sondern würden sagen, irgendwo in der Mitte liegt die Wahrheit. Aber die Person sollte nicht vernachlässigt werden. Und zwar lässt sich die Person, in dieser Metapher bleibend, als Spieler auf einem Spielfeld oder auf der Bühne der internationalen Politik verstehen, und die Rahmenbedingungen, die man auch als Spielfeldbegrenzungen bezeichnen kann, spielen eine Rolle. Sie können Möglichkeiten eröffnen für den Einfluss einzelner Entscheidungsträger. Der amerikanische Politikwissenschaftler Fred Greenstein hat dazu diese schöne Poolbillard-Parabel aufgestellt. Je nachdem, wie die Kugeln liegen und wie geschickt der Einzelne ist, so unterscheidet sich auch seine Einflussmöglichkeit. Es kommt auf die Fähigkeiten des einzelnen Spielers an, die Situation zu erkennen und dann auch die Kugel einzulochen. Nicht jeder Spieler ist in jeder Situation in der Lage, den richtigen „Shot“ zu spielen, der sieht ihn vielleicht gar nicht.
Ihr Sammelband hat seinen Fokus auf der jüngeren und jüngsten Geschichte. Zwei Persönlichkeiten stehen dabei im Mittelpunkt, Gorbatschow und Genscher, und zwar im Mittelpunkt sehr vieler Beiträge, ob nun aus dem Journalismus, aus der Politik, aus der Wissenschaft. Was macht die beiden so relevant für Ihre Forschung?
Das ist eine ganz interessante Beobachtung. Wir haben das ja nicht vorgegeben, in Anführungsstrichen ist das so passiert, die Autorinnen und Autoren haben sich das ausgesucht. Gorbat-
schow und Genscher – und jetzt kehren wir zurück zu den Annahmen, über die wir eben sprachen, und zu der Poolbillard-Parabel – wirkten in einer Zeit, in der das politische System sehr offen war für Veränderungen. Im Griechischen spricht man da von Kairos, einem günstigen Moment. Die Kugeln lagen günstig in den ausgehenden 1980er Jahren. Und jetzt ist es das große Verdienst gewesen von Gorbatschow und auch von Genscher, diese Gunst der Stunde zu erkennen. Sie haben mit ihrer Persönlichkeit, mit ihrem Werdegang, den die Autorinnen und Autoren, die sich mit den beiden beschäftigen, sehr schön nachzeichnen, Einfluss gehabt auf die Ereignisse der späten 80er und frühen 90er Jahre. Diese Zäsur von 1989/90 ist sicherlich einer der ganz großen Wendepunkte des letzten Jahrhunderts gewesen.
Zu den Autorinnen und Autoren Ihres Sammelbandes gehören Journalisten wie Ulrich Wickert und Politiker wie Alexander Graf Lambsdorff (FDP) und Rolf Mützenich (SPD). Mützenich bringt auch Donald Trump ins Spiel und zeigt sich sehr überzeugt, dass die deutsche Einigung nicht zustande gekommen wäre, wenn Trump damals an der Macht gewesen wäre. Wie plausibel ist diese These?
Das ist auch wieder eine kontrafaktische Frage, in diesem Fall, wie ein Politiker, den wir von heute kennen, in der Vergangenheit gehandelt hätte. Das Entscheidende damals war, dass Kohl und Bush eine ganz lange, enge Beziehung aufbauen konnten. Und das führt uns dazu, noch eine weitere Dimension des personenbezogenen Ansatzes zu diskutieren, nämlich die Frage: Wie sind die Beziehungen zwischen Personen, wie ist die Kompatibilität von Personen? Hinzu kommen Werte wie Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit. Das waren alles ganz wichtige Faktoren, die dann zur doch sehr schnellen Wiedervereinigung geführt haben, die, und da würde ich Mützenich zustimmen, so unter Trump nicht denkbar gewesen wäre.
Sie verorten den Sammelband und auch die Schriftenreihe in einer langen Traditionslinie der Bonner Wissenschaft von der Politik und von der Zeitgeschichte. Worin besteht die Tradition und wie führen Sie sie fort?
Mit dieser Tradition ist auch der Name „Bonner Schule“ verbunden. Viele ihrer prominenten Vertreter haben dem Faktor Persönlichkeit eine große Rolle beigemessen, insbesondere Professor Hans-Peter Schwarz. Herr Schwarz war von 1987 bis 1999 Inhaber des Lehrstuhls, den Professor Xuewu Gu jetzt führt, mit dem ich die Reihe zusammen herausgebe. Wir wollen als seine Schüler ein Zeichen setzen, dass diese fruchtbare Tradition auch unter veränderten Bedingungen weitergeführt wird. Und gerade Schwarz ist jemand, der sich über Jahrzehnte auch immer wieder nah an der Biografik bewegt hat, auch immer wieder Lebensbeschreibungen verfasst hat, sehr einflussreiche, zu Konrad Adenauer, zu Helmut Kohl, das aber auch immer getan hat in Verbindung mit der Frage der politischen Auswirkungen. Diese Bonner Tradition ist es wert, weitergeführt und auch weiterentwickelt zu werden. Das ist ja gerade der Ansatz unserer Schriftenreihe: Wir möchten sie mit neuem Leben ausstatten, mit neuen interdisziplinären Ansätzen, auch modernen, innovativen Forschungsmethoden, und so den Erklärungsgehalt dieses Ansatzes fortschreiben.