Es ist doch verrückt. Diese Woche musste ich mit „meinen“ Oberärzt*innen darüber streiten, ob wir im Februar am OSCE teilnehmen werden – dem Objective Structured Clinical Exam, einer Prüfungsform, bei der 120 Medizinstudierende im 5-Minuten-Rotationsverfahren einen Parcours mit acht praktisch-klinischen Aufgaben absolvieren. Ist das unverantwortlich, weil wir angesichts von Omikron auch mit 2G und FFP2 das Infektionsrisiko einer solchen Veranstaltung, bei der es zwangsläufig zu Begegnungen kommen wird, nicht abschätzen können? Oder ist es vielmehr unverantwortlich, den Studierenden, die schon zwei Onlinesemester hinter sich haben, ein weiteres Semester diese Chance vorzuenthalten, ihre Fertigkeiten selbst zu testen und testen zu lassen? Wie können wir abwägen zwischen dem Schutz unserer Mitarbeiter*innen und aller Menschen aktuell vor einer Infektion, dem Recht der Studierenden auf eine gute Ausbildung, und dem Schutz zukünftiger Patient*innen vor Ärzt*innen, die wir nicht so gut ausgebildet haben, wie wir es hätten tun sollen und wollen? Eigentlich haben alle Recht, übernehmen alle Verantwortung, und trotzdem gibt es keine gütliche Einigung.
„Der winzige Weihnachtsbaum hatte etwas Rührendes“
Und nun Weihnachten. Das Problem setzt sich im Privaten fort. Im letzten Jahr haben wir als Kleinstfamilie zu dritt gefeiert. Monatelang habe ich weder unsere schon erwachsenen Kinder noch unser Enkelkind gesehen. Ich war Risikopatientin, niemand war geimpft, und die Welt war coronabedingt aus den Angeln, die Bilder aus Bergamo vom April hatten wir noch im Herzen. Alle waren bereit, sich gemeinsam anzustrengen, die Regierung bat, von Familientreffen abzusehen. Da war das noch relativ klar. Unser damals siebzehnjähriger Sohn, aktiv bei Fridays for Future, aber auch das natürlich seit Monaten nur noch online, bestand auf höchstens einem nachhaltig winzigen Bäumchen im Topf. Es passten nur fünf Kügelchen dran, es hatte etwas Rührendes. Wir haben uns auch wenig geschenkt, Weihnachten mal anders. Wir hatten das Privileg, danach zu zweit in mein Elternhaus im Schwarzwald fahren zu können, wo wir einsam durch den Wald stapften und der Schnee märchenhaft schwer von den Bäumen fiel. Dass es eine Ausgangssperre gab, merkten wir erst, als wir einmal um acht noch eine Pizza bestellen wollten.
Aber jetzt bin ich dreimal geimpft, mein Mann und alle Kinder doppelt, das Enkelkind ist drei Jahre alt, kennt die Welt nur mit verhüllten Gesichtern und kann Lollitests durchführen. Weihnachten naht völlig unbeirrt vom Weltgeschehen, und diesmal ist es nicht so klar. Es gibt keine Verbote, aber täglich ansteigende Infektionszahlen, nach Delta nun Omikron, die Intensivstationen laufen gerade voll, Wissenschaftler*innen warnen. Gleichzeigt gibt es so etwas wie eine neue Normalität mit Maske und Corona-App. Damit kann ich wieder in die Kantine, ins Museum, mit Test sogar in die Orchesterprobe und mein Mann in sein Fitnessstudio. Wir planen also ein Weihnachten en famille, mit Kindern und deren Anhang. Wir bleiben dabei, dass es weniger Geschenke geben soll (ok, von dem riesigen Puppenhaus abgesehen). Aber ansonsten wird es traditionell mit Apfelduft und Lichterglanz und, ja, wahrscheinlich nötige ich (wir haben ja 2G+) wieder alle zu etwa drei Weihnachtsliedern, was man wahlweise als Zugeständnis an meine Sehnsucht oder als Familienritual für das Enkelkind betrachten kann. Und dann essen wir Lachs (mit ein bisschen schlechtem Gewissen wegen Zuchtbedingungen und CO2), ohne Masken, offensichtlich, zusammen am großen Esstisch.
Alles erlaubt, aber ist es auch richtig? Wir haben über den OSCE gestritten; ist denn mein privates Weihnachtsfest harmlos, oder produzieren wir als unheimlich nette Familie damit wider besseres Wissen vielleicht einen Hotspot? Verschließen wir selbstsüchtig unsere Augen vor dem Pandemiegeschehen? Wenn ich darüber schreibe, fühlt es sich nicht gefährlich an: habe ich mich so an die Gefahr gewöhnt, die man ja nicht riechen oder schmecken kann (sic!), dass sie mich nicht mehr ängstigt? Bin ich ihrer müde und verdränge sie, um nicht auf die Familie verzichten zu müssen, und falls ja: ist das verantwortungslos?
Mir scheint, dass im Vergleich zum letzten Jahr manches anders ist. Wir hören, wir seien auf dem Höhepunkt der Krise, aber es fühlt sich nicht mehr so akut an. Wir haben uns an vieles gewöhnt, und wissen trotzdem nicht, wie es weitergehen wird. Wir sind müde, der Unsicherheit und der (meist trotz allem moderaten) Einschränkungen, aber wollen trotzdem solidarisch sein und das moralisch Richtige tun. Wir wollen, dass die Politik den richtigen Weg vorgibt, aber wissen doch, dass „trial and error“ nunmal oft das einzig Mögliche ist. Es geht ein Riss durch Familien, alte Freundschaften und durch Gemeinschaften wie „mein“ Musikensemble: die meisten für das Impfen, wenige dagegen, beide Seiten vehement, Verständigung ist kaum möglich. Die nicht endende „Coronakrise“ scheint Gegensätze in und um uns ans Tageslicht zu bringen, die wir vorher so nicht erlebt haben.
Die Worte „Krise“ und „Resilienz“ sind in aller Munde. Ich bin Teil der interdisziplinären von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsgruppe „Resilienz in Religion und Spiritualität“. Wir betrachten Resilienz nicht als etwas, was man hat oder nicht hat, sondern als etwas, was sich erst in der Auseinandersetzung mit der Krise herausbildet. Wir haben uns über Fächergrenzen hinweg auf drei Konstrukte geeinigt, die wir als zentral betrachten im Resilienzprozess: Ambivalenz, Hoffnung, und Ringen mit Destruktivität. Das sind keine Strategien, mit denen man es schafft, sich von Stress nicht berühren zu lassen. Es sind Phänomene, die in jeder Krise auftreten, und die durchlebt, ausgehalten und gestaltet (nicht „überwunden“) werden müssen, damit Resilienz „gelingen“ kann. Gelingen würde bedeuten, dass die Krise in das persönliche Lebensnarrativ eingeordnet werden kann, und dass ein Gefühl von Kohärenz und Sinn erhalten oder erlangt werden kann.
„Ich kann nicht ohne Ambivalenz Weihnachten feiern“
Dass wir in der nunmehr vierten Infektionswelle viel Ambivalenz erleben, habe ich gerade beschrieben. Je nachdem, wie man es betrachtet, erscheint alles normal oder alles unsicher, alles richtig oder alles falsch. Ich kann nicht ohne Ambivalenz Weihnachten feiern (oder nicht feiern), Lehre durchführen, Freund*innen oder Kolleg*innen treffen. Die Psychologie lehrt uns, dass zuviel Ambivalenz zu Abwehrmechanismen führt: um zur Ruhe zu kommen, wird eine Seite des Konflikts ausgeblendet, verdrängt oder verzerrt. Ich erkläre eine Seite zur einzig Richtigen und glaube freiwillig, dass jedes Gegenbeispiel wahlweise unwahr, dumm oder böswillig ist. Das funktioniert übrigens nicht nur bei „Querdenkern“ (die leider nur noch quer und eben nicht kreuz denken), sondern auch dann, wenn jene pauschal für schwachsinnig erklärt werden. Um nicht in eine starre Haltung zu verfallen, muss Ambivalenz also nicht nur wahrgenommen, sondern auch ausgehalten werden (was unangenehm ist). Allerdings suggeriert „Aushalten“ eine passive Haltung, die schnell an Gleichgültigkeit grenzen könnte. Ambivalenz aushalten bedeutet nicht, sich nicht zu positionieren: Den Impfhelfer, der sich die Wochenenden aus Solidarität um die Ohren schlägt, möchte ich unterstützen; den Impfgegner, der der Welt sein Misstrauen erklärt, begrenzen. Wer grenzenlos ambivalenztolerant wäre, ließe sich durch nichts mehr irritieren. Sich von der Krise nicht berühren zu lassen, ist aber genau nicht unsere Vorstellung von Resilienz. Davon spricht „Ringen mit Destruktivität“: dass mir Negatives begegnet, außerhalb von mir und in mir, und dass das Ringen ebenso notwendig wie unsicher ist. Bei Destruktivität denke ich vor allem daran, dass Aggressivität in Medien oder aus Menschengruppen heraus vermehrt „üblich“ wird. Ich glaube persönlich nicht, dass der moderne Mensch aggressiver ist als frühere Generationen. Ich glaube, dass Tabus fallen, weil moderne Medien das begünstigen, weil es mehr Möglichkeiten der Meinungsmanipulation gibt, und, meine These, weil die Erinnerung an den Weltkrieg verblasst. Ich glaube, dass wir damit ringen müssen, handelnd, um den Zusammenhalt und die Demokratie zu erhalten.
Wir werden diese Pandemie nicht „besiegen“. Wir können uns mit ihr, mit aktiven Maßnahmen und miteinander, arrangieren. Wir könnten danach zum Zustand zurückkehren wollen, wie er vorher war – das wäre eine weit verbreitete Vorstellung von Resilienz. Oder wir könnten – darin läge die Hoffnung – uns verändern lassen und verändern. All die Solidarität, die wir in der ersten und zweiten Welle erlebt haben – dazu sind wir fähig! Tiefgreifende Einschränkungen für jeden von uns, um Schwache zu schützen – wir haben sie zusammen akzeptiert und gelebt. Wir sind als Gesellschaft so träge und bequem geworden, aber da kommt so ein Virus, und wir können auch anders!
Weihnachten ist eine Zeit starker Bilder, Rituale und Sehnsüchte. Die Ambivalenz zwischen meinem Jugendglauben und dem, was ich als gesunden Menschenverstand erlebe, hat ersterer leider nicht überlebt. Aber die Faszination der Weihnachtsgeschichte bleibt: ein Neugeborenes ist das intuitiv Schützenswürdigste, was wir uns vorstellen können. Bedroht von Armut, Kälte und Mord. Besungen von Engeln, behütet von Hirten, beschenkt von Königen. Des Menschen größte Ohnmacht, umgeben von seinen größten Stärken: Gemeinschaft, Hoffnung, Reduktion auf das Nötige, Vorausblicken auf Größeres. Nun ja, die Theolog*innen in unserer Forschungsgruppe mögen sich die Ohren zuhalten, wenn ich mich dem eher naiv nähere. Aber ich sehe in der Weihnachtsgeschichte und dem Weihnachtsfest genauso Frieden und Harmonie (wenn wir das Glück haben, sie im Familienkreis erleben zu dürfen) wie auch Bedrohung und Handlungsdruck (an Weihnachten sind familiäre Konflikte, soziale Ungleichheit, Corona und Klimakrise nicht in der Winterpause). Und eine Konzentration aufs Wesentliche, mit unsicherem Ausgang (am Ende soll es, je nachdem, wie man es liest, nicht so gut ausgegangen sein mit der Weihnachtsgeschichte - oder, im Gegenteil, über jede Vorstellung hinaus gut).
„Richtig und falsch sind nicht immer klar zu trennen“
Was das noch mit der Coronakrise zu tun hat? Also: ich wünsche mir, dass wir nach all diesen Wellen nicht nur aufatmen und zur Tagesordnung zurückkehren, sondern dass wir uns erinnern an unsere Ambivalenzen, und daran, dass richtig und falsch nicht immer so klar zu trennen sind. Dass wir selbst immer wieder eigene Entscheidungen treffen müssen und dürfen. Dass wir uns sicher fühlen dürfen in der Nähe unserer Liebsten, und doch wissen, dass wir alle Gefahren ausgesetzt sind, die (noch) nicht zu riechen oder zu schmecken sind. Ganz besonders: Dass wir angesichts dessen viel mehr Potenzial zu Solidarität und Verzicht haben, als wir vielleicht dachten, jede und jeder einzeln wie als Gesellschaft. Dass wir stolz sein dürfen darauf, dies schon gezeigt zu haben. Und ich wünsche mir, dass wir dieses Potenzial auch in Zukunft einsetzen, viel öfter, und ganz besonders angesichts der Klimakrise, die noch viel unbarmherziger sein wird als Corona.
Ich schließe also ohne Weihrauch, Gold und Myrrhe, aber mit einer mittleren Prise Ambivalenz und einem Bündel Hoffnung: Es wird nicht alles gut sein an Weihnachten. Aber ich wünsche Ihnen, dass Sie es gut erleben dürfen. Dass Sie ein bisschen Zeit zum Innehalten und Nachdenken finden, eine gute Mütze voll Resonanz mit anderen Menschen, einen Blick zurück, der über Corona hinausreicht, und Stärkung zum gemeinsam Weitermachen.