Das Gehirn ist ein komplexes Netzwerk. Nach Schätzungen verfügt das Denkorgan des Menschen über rund hundert Milliarden Nervenzellen. Jede dieser Neurone kann über Schaltstellen – so genannte Synapsen – mit Tausenden anderen Nervenzellen „verdrahtet“ sein. Das geschieht über sehr dünne, baumförmige Verzweigungen, so genannte Dendriten. „Rund 90 Prozent der Aktivierung von Nervenzellen findet an solch dünnen Dendriten statt – ihre Bedeutung wurde unterschätzt“, sagt Professor Dr. Heinz Beck, Leiter des Labors für experimentelle Epileptologie der Universität Bonn. Bislang war es technisch nur möglich, die elektrische Erregung dickerer Dendriten mit Elektroden zu erfassen. Den Wissenschaftlern der Universität Bonn und ihren Kollegen vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Bonn (DZNE) ist es nun gelungen, mit neuartigen Methoden die Aktivierung auch dieser haarfeinen Dendriten zu messen.
Die Elektrodenspitze ist weniger als ein Tausendstel Millimeter dünn
Elektroden mit weniger als ein Tausendstel Millimeter feinen Spitzen und eine neuartige Mikroskopietechnik erlaubten, die Aktivität der besonders dünnen Dendriten zu erfassen. Die Forscher untersuchten an etwa 0,3 Millimeter dünnen Scheiben die Körnerzellen aus dem Hippokampus von Ratten. „Die Körnerzellen kontrollieren wie ein Wächter den Informationsfluss zum Hippokampus. Diese Gehirnstruktur ist wichtig für Lernen und Gedächtnis“, sagt Dr. Roland Krüppel, der an der Universität Bonn in Prof. Becks Team seine Doktorarbeit anfertigte und nun an der Universität Zürich arbeitet.
Mit einer der winzigen Elektroden schickten die Forscher ein elektrisches Signal in den Dendriten, das durch die Nervenzelle hindurch lief. Eine zweite Elektrode am anderen Ende des Neurons erfasste, wie viel von der Erregung ankam. Außerdem untersuchten die Wissenschaftler, was passiert, wenn gleichzeitig mehrere Synapsen an einem Dendriten aktiviert wurden. Hierfür nutzten sie eine clevere Methode. „An den Synapsen wirkt Glutamat als Überträgersubstanz“, berichtet Dr. Krüppel. Die Forscher fingen deshalb den Botenstoff in einem speziellen Molekül wie in einem Käfig (Englisch: cage) ein. Dann beschossen sie das Käfig-Molekül mit Licht, worauf sich die Tür des „Gefängnisses“ öffnete und der frei gelassene Botenstoff die beleuchteten Synapsen aktivierte. „Mit diesem Cage-Molekül können wir mehrere Kontaktstellen an den Fortsätzen gezielt gleichzeitig stimulieren und beobachten, wie die Nervenzelle die Eingangsignale in ein Ausgangssignal umwandelt“, berichtet Beck. „Die Kombination aus Elektroden und Käfig-Molekül erlaubte uns zum ersten Mal einen umfassenden Blick auf die Eigenschaften der Dendriten.“
Signale werden im Nervenzellfortsatz stark abgeschwächt
Die Nervenzellen verhielten sich sehr „demokratisch“: Jede durfte „mitreden“ wenn gleichzeitig mehrere Kontaktstellen aktiviert wurden. „Lokal wird an den Synapsen dafür gesorgt, dass alle Signale gleich behandelt werden“, berichtet Dr. Krüppel. Gleichzeitig wurden die von den Synapsen eintreffenden Signale stark abgeschwächt. „Dies ist vermutlich wichtig, um die Körnerzellen mit einer Art Filterfunktion auszustatten“, sagt Prof. Beck. „So kann der Informationsfluss in den Hippokampus begrenzt und gesteuert werden.“ Diese Erkenntnisse seien wichtig für das Verständnis von Krankheiten. Die Wissenschaftler der Universität Bonn erforschen die Bedeutung der Dendriten bei Epilepsien und die Forscher des DZNE bei der Alzheimerschen Erkrankung.
Publikation: Roland Krüppel, Stefan Remy und Heinz Beck: Dendritic integration in hippocampal dentate granule cells, Journal „Neuron“, Volume 71, Issue 3, S. 1-17, doi:10.1016/j.neuron.2011.05.043
Kontakt:
Prof. Dr. Heinz Beck
Labor für experimentelle Epileptologie
Tel: 0228/ 68 85 270
Heinz.Beck@ukb.uni-bonn.de
11. August 2011
Demokratie in der Nervenzelle Demokratie in der Nervenzelle
Wissenschaftler der Universität Bonn messen die Signale in extrem dünnen Nervenzellfortsätzen
Forschern der Universität Bonn sowie des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen in Bonn ist es erstmals gelungen, umfassende Einblicke in die Signalverarbeitung extrem dünner Nervenzellfortsätze zu gewinnen. Die Bedeutung dieser baumartigen Verzweigungen bei der Informationsübertragung im Gehirn wurde bislang unterschätzt.
Körnerzelle aus dem Hippokampus einer Ratte:
- Die Nervenzellfortsätze (Dendriten) zeigen wie Äste an einem Baum nach oben. Im Bild links ist hellleuchtend die Pipette zu sehen, mit der die Zelle mit Farbstoff gefüllt wurde.
© Roland Krüppel/Uni Bonn
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