Wenn Krankheitserreger den menschlichen Körper attackieren, muss das Immunsystem entscheiden, ob es sich um gefährliche Eindringlinge oder körpereigene Moleküle handelt. Im Lauf der Evolution hat sich ein sehr effizientes System herausgebildet, das entfernt an die Methoden von Geheimdienstagenten erinnert: Das humane Leukozytenantigen-System (HLA) bringt mit Hilfe bestimmter Gene Rezeptoren hervor, die die Gefährdungseinstufung der Krankheitserreger anhand deren Steckbrief von nur acht Aminosäuren vornehmen. „Diese Leistung lässt sich mit einem Text vergleichen, der von einem Spion anhand weniger Buchstaben eines Wortes als »gefährlich« erkannt wird“, sagt Prof. Dr. Norbert Koch vom Institut für Genetik, Abteilung Immunbiologie, der Universität Bonn.
Das Immunsystem scannt die Aminosäuren der Erreger
Um diesen geheimen unbekannten Text lesen zu können, zerlegt das Immunsystem die Eindringlinge in ihre Peptide und scannt dann einen Teil ihrer Aminosäureabfolgen. Insgesamt waren bislang drei verschiedene Peptid-Rezeptoren bekannt, die beim Menschen in mehr als 1000 verschiedenen Ausprägungen verräterische Buchstabenfolgen lesen können. „Diese Vielfalt ist erforderlich, damit das Immunsystem die gesamte Bandbreite der für den Menschen relevanten Krankheitserreger einstufen kann“, erklärt Prof. Koch. Einen vierten Rezeptor als weiteren „Spion“ hat nun ein internationales Forscherteam der Universität Düsseldorf, der TU München, der Jacobs Universität Bremen und der Universität Cambridge unter Federführung der Immunbiologen der Universität Bonn gefunden.
Dieser Rezeptor mit dem Kurznamen „HLA-DRaDPa“ besteht aus der Kombination von Untereinheiten bereits bekannter Rezeptoren. Die Wissenschaftler verglichen die Gensequenz, die den neu entdeckten Rezeptor kodiert, mit bestehenden Datenbanken und stellten fest, dass schätzungsweise zwei Drittel der Europäer über diese wichtige Struktur verfügen. Auch Prof. Koch trägt die Baupläne für diesen „Spion“ in sich, wie eine seiner Mitarbeiterinnen anhand durch Klonierung seiner DNA-Sequenzen herausfand. Die Wissenschaftler überraschte jedoch, dass die für diesen Rezeptor erforderliche Gensequenz bei den Menschen im südlichen Afrika praktisch nicht vorkommt. Dort befand sich die Wiege der Menschheit. „Als der frühe Mensch als Vorfahr des heutigen Menschen Afrika verließ und vor einigen hunderttausend Jahren nach Europa einwanderte, verfügte er noch nicht über diesen Rezeptor“, sagt Prof. Koch.
Der moderne Mensch verdankt den Rezeptor dem Neandertaler
Die Wissenschaftler prüften deshalb, ob etwa der Neandertaler als Beispiel für einen Urmenschen über die entscheidende Gensequenz verfügte, die den Bauplan für den Rezeptor enthält. Prof. Dr. Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig war 2010 federführend an der Sequenzierung und Veröffentlichung des Neandertalergenoms beteiligt. Dr. Sebastian Temme, der einen wesentlichen Teil der experimentellen Arbeiten durchführte, hat aus der Neandertaler-Datenbank mit Kollegen aus Düsseldorf aus vielen kleinen Bruchstücken die Sequenz des Neandertalergens zusammengesetzt. „Die betreffende Gensequenz des Neandertalers ist mit der von heutigen Menschen fast identisch“, sagt Prof. Koch.
Das bedeutet, dass der Neandertaler im Gegensatz zu unseren Vorfahren aus Afrika bereits über diesen für das Immunsystem so wichtigen Rezeptor verfügte. „Die Neandertaler lebten wahrscheinlich viele Hunderttausend Jahre in Europa und konnten in dieser Zeit den HLA-Rezeptor entwickeln, der ihnen eine Immunität gegen viele Krankheitserreger verlieh – das war ein klarer Evolutionsvorteil“, sagt der Immunbiologe der Universität Bonn. Der Wissenschaftler vermutet, dass wir moderne Menschen diesen vorteilhaften Rezeptor dem Neandertaler zu verdanken haben.
Publikation: A novel family of human lymphocyte antigen class II receptors may have its origin in archaic human species, Journal of Biological Chemistry, DOI: 10.1074/jbc.M113.515767
Kontakt:
Prof. Dr. Norbert Koch
Institut für Genetik (Abteilung Immunbiologie)
der Universität Bonn
Tel. 0228/734343
norbert.koch@uni-bonn.de
18. November 2013
Forscherteam entdeckt „Immun-Gen“ des Neandertalers Forscherteam entdeckt „Immun-Gen“ des Neandertalers
Urmensch verfügte über einen Selektionsvorteil, fanden Wissenschaftler unter Federführung der Uni Bonn heraus
Eine Arbeitsgruppe der Universität Bonn hat mit einem internationalen Forscherteam einen neuen Rezeptor entdeckt, mit dem das Immunsystem erkennen kann, ob Eindringlinge gefährlich sind und beseitigt werden müssen. Bereits der Neandertaler trug den Bauplan für diese vorteilhafte Struktur in seinem Erbgut, wie die Wissenschaftler anhand von Gensequenzen nachweisen konnten. Der Rezeptor ermöglichte diesem Urmenschen wahrscheinlich eine bessere Immunität und war damit ein klarer Selektionsvorteil. Die Ergebnisse sind vorab online im „Journal of Biological Chemistry“ veröffentlicht. Die Druckausgabe erscheint voraussichtlich im Januar.
Prof. Dr. Norbert Koch vom Institut für Genetik der Universität Bonn
- mit der HLA-Sequenz des Neandertalers und zum Vergleich einer menschlichen Sequenz und einer Schimpansensequenz auf dem Computer-Bildschirm.
© Foto: Barbara Frommann/Uni Bonn
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