Wenn einer aus Köln kommt, wirkt Kairo auf ihn sehr exotisch. Andersherum ist das aber genauso. Was hat sich also ein Besucher aus Teheran oder Konstantinopel gedacht, als er nach Genf, London oder Monte Carlo reiste? Experten vom Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Universität Bonn suchen hierzu jetzt nach Details – in Reiseberichten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg. Viele Iraner, Türken und Araber waren damals als Händler, Studierende, Diplomaten, politische Exilanten, Kulturtouristen oder Heilbad-Patienten unterwegs und schrieben auf, was sie erlebten, sahen und dachten. „Wir untersuchen, wie diese Europabilder zustande kamen, wie die Berichte das Europabild dieser Länder beeinflusst haben und fragen nach der Funktion der Texte im heimischen Diskurs“, sagt Dr. Jasmin Khosravie, kommissarische Leiterin des Projekts „Europa von außen gesehen – Formationen nahöstlicher Ansichten aus Europa auf Europa“. Als „Nachwuchs-Forschergruppe“ wird es vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.
Die Arbeit der Experten folgt zwei neuen Denkansätzen. Zum einen stellen sie die Quellen einander gegenüber und fahnden nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Fremdheitserfahrung: Der Doktorand Caspar Hillebrand bearbeitet die im osmanischen Türkisch abgefassten Texte, der Doktorand Mehdi Sajid die Schriften arabischer Exilanten in Europa, Dr. Jasmin Khosravie selbst die iranischen Reiseberichte. Dr. Bekim Agai, für die Vertretung einer Professur in Frankfurt beurlaubter Leiter des Projekts, befasst sich mit arabischen und türkischen Berichten. „So eine vergleichende Herangehensweise gab es in der Islamwissenschaft bisher nicht“, sagt Dr. Khosravie. Zweites Novum ist, die Berichte nicht als authentische Wirklichkeitsbeschreibung zu betrachten, sondern auf die Person des Autors hin abzuklopfen. „Wir fragen: Wer ist der Reisende? Welche Ziele verfolgt sein Bericht, welche narrativen Strategien wendet er an?“ Ein Händler werde seinen Kollegen andere Dinge erzählen als ein Diplomat oder ein Kulturtourist. Auch eine politische Stoßrichtung sei denkbar: „Als Schah Naser ad-Din im Jahre 1873 Europa bereiste, sind Beschreibungen der begeisterten Empfänge, die ihm zuteil wurden, Teil einer Botschaft. Die Untertanen sollten erfahren, dass der Herrscher Persiens auch im Ausland als mächtig und angesehen galt.“
Ein Moslem im Stephansdom: „Es ist derselbe Gott“
Obwohl das Projekt der Islamwissenschaft zugeordnet ist, steht der Islam als Religion nicht im Mittelpunkt. „Europareisende aus dem Nahen und Mittleren Osten als »Muslime in Europa« zusammenzufassen, ist verfehlt und verzerrt das Bild“, sagt Dr. Khosravie. „Die Religion spielt in vielen Berichten eine untergeordnete Rolle.“ Ein prägnantes Beispiel gibt der persische Prinz Masud Mirza Zill al-Sultan: „Er kam 1906 nach Wien und wollte dort beten. Er ging einfach in den Stephansdom. In seinem Reisebericht schreibt er sinngemäß: »Es ist egal, wo ich bete. Es ist doch sowieso derselbe Gott.« Im antikolonialen Diskurs, der etwa von arabischen Exilanten in Europa getragen und geformt wurde, hat die Religion hingegen eine wichtige, identitätsstiftende Bedeutung.“
„Die Motive dafür, was die Menschen hier beobachten und was sie darüber schreiben, sind unzählig“, sagt Khosravie. Weil es „den“ orientalischen Betrachter Europas nicht gebe, gebe es auch nicht „den“ Blick des Nahen und Mittleren Ostens darauf. „Wer den Daheimgebliebenen das europäische Bildungssystem als Vorbild vermitteln wollte, erzählte ihnen nicht von den vielen Menschen, die in London oder Paris in Armut lebten und nicht lesen konnten. Und wer vor den Kolonialherren ins Exil geflohen war, hatte ein anderes England- oder Frankreichbild als ein Besucher der Heilbäder und Spielcasinos.“
Forschungspreis der Annemarie-Schimmel-Stiftung für Islamkunde
Für eine weitere Leistung der Bonner Orientwissenschaft kommt zudem jetzt hohe Anerkennung. Dr. Jasmin Khosravie, die das Projekt „Europa von außen gesehen“ kommissarisch leitet, erhält für ihre Dissertation zum Leben und Wirken der iranischen Frauenrechtlerin Sadiqa Daulatabadi (1882–1961) den erstmals vergebenen „Forschungspreis“ der Annemarie-Schimmel-Stiftung für Islamkunde. Der Preis wurde heute beim „Deutschen Orientalistentag“ in Münster überreicht.
Die Publizistin und Feministin Sadiqa Daulatabadi gilt als eine der bedeutendsten Figuren der frühen Frauenbewegung in Iran. Zeitlebens kämpfte sie gegen die politische, gesellschaftliche und rechtliche Benachteiligung ihrer Geschlechtsgenossinnen. Bekannt wurde sie vor allem für die Gründung ihrer kontroversen Zeitung „Zaban-i Zanan“ (Die Stimme der Frauen, 1919). Sie gründete Mädchenschulen und leitete später den staatlichen „Kanun-i Banuvan“ (Club der Frauen). Bis heute bleibt Daulatabadi eine Symbolfigur des iranischen Feminismus.
Mit der Vergabe an die Bonner Expertin bleibt der Forschungspreis ganz nah an seinen Wurzeln: Die Auszeichnung erinnert an die weltberühmte Orientalistin Professor Dr. Annemarie Schimmel (1922-2003), die von 1961 bis zu ihrem Tod an der Universität Bonn wirkte. Dr. Khosravie teilt sich den mit 5000 Euro dotierten Preis mit dem Islamwissenschaftler Dr. Jan Thiele von der Freien Universität Berlin.
Kontakt für die Medien:
Dr. Jasmin Khosravie
Institut für Orient- und Asienwissenschaften
Tel.: 0228/73-60229
jasmin.khosravie@uni-bonn.de
„Europa von außen“ im Internet: www.europava.uni-bonn.de
23. September 2013
Der Blick von außen auf Europa Der Blick von außen auf Europa
Forscher der Uni Bonn untersuchen Reiseberichte aus dem Orient. Hohe Auszeichnung für Wissenschaftlerin
Was haben sich Gäste aus dem Nahen und Mittleren Osten bei ihren Europareisen im 19. und frühen 20. Jahrhundert gedacht? Experten vom Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Universität Bonn untersuchen das in dem vom BMBF geförderten Projekt „Europa von außen gesehen“. Ein Ergebnis ist: Die Besucher aus dem türkischen, arabischen oder persischen Sprachraum lassen sich nicht auf die einfache Formel „Muslime in Europa“ bringen. Ein weiterer Erfolg der Bonner Islamwissenschaftler: Projektleiterin Dr. Jasmin Khosravie, erhält den erstmals vergebenen Forschungspreis der Annemarie-Schimmel-Stiftung.
Dr. Jasmin Khosravie
- vom Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Universität Bonn erhält für ihre Dissertation zum Leben und Wirken der iranischen Frauenrechtlerin Sadiqa Daulatabadi (1882–1961) den erstmals vergebenen „Forschungspreis“ der Annemarie-Schimmel-Stiftung für Islamkunde.
© Foto: Volker Lannert/Uni Bonn
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Der iranische Prinz Malik Mansur Mirza
- und seine Frau Farah al-Saltanah mit Kindermädchen ließen sich bei der Weltausstellung in Gent (Belgien) 1913 in einer Fliegerkulisse ablichten.
© Foto: Privatsammlung von Taj al-Muluk Tajbakhsh Zamandar/Universität Harvard