Seit seiner Jugendzeit interessiert sich Gerhard Günther aus Bonn für Kunstgeschichte. Während seines Berufslebens arbeitete er als Geodät beim Landesvermessungsamt in Bad Godesberg. Als er pensioniert war, schrieb er sich für ein Kunstgeschichte-Studium an der Universität Bonn ein. Mittlerweile hat der 70-Jährige in diesem Fach nicht nur seinen Bachelor in der Tasche, sondern auch den Master – in der Regelstudienzeit. „Ich bewundere die heutigen Studenten, die häufig noch nebenbei arbeiten müssen“, sagt Günther. „Das Studium war ein Fulltime-Job, außerdem musste ich auch noch Latein lernen – es hat aber alles geklappt.“
In seiner Abschlussarbeit bei Prof. Dr. Heijo Klein setzte sich der Master-Student mit der Geschichte der Schaufensterfiguren und der Schaufenstergestaltung des Bonner Kaufhofs der 1950er und -60er Jahre auseinander. Die Präsentationen der Kaufhäuser waren damals aufwändig wie Bühnenbilder gestaltet, das wusste der Kunsthistoriker noch aus eigener Kindheit. „Sie waren Abbilder des damaligen Zeitgeists und Geschmacks“, sagt Günther. Sie sollten mit optischen Reizen zum Kauf animieren und waren mit ihrer Beleuchtung gerade nachts ein Anziehungspunkt. In der Gestaltung sei das aufgegriffen worden, was die Menschen damals bewegte: Hobbys, Mode für Beruf und Freizeit sowie die Einrichtung der eigenen vier Wände. „Zugleich dienten die Schaufenster als Vorbilder, weckten Wünsche und beeinflussten umgekehrt auch wieder das reale Leben“, so der Kunsthistoriker.
Ein Fotoarchiv zum Bonner Kaufhof als wissenschaftliche Fundgrube
Über die Leiterin „Visual Merchandising“ bekam der Kunstgeschichtestudent Zugang zu einem umfangreichen Archiv des Bonner Kaufhofs, in dem einige hundert Fotos von Schaufenstern aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg aufbewahrt werden. Günther: „Es handelt sich bei diesen Fotos um eine wissenschaftliche Fundgrube, die ein ganz eigenes Sittengemälde aus dieser Zeit zeichnet.“ So sitzt in einem Schaufenster eine weibliche Figur an einem Nähtisch, umgeben von verschiedenen Dekorationsstoffen. Im Hintergrund ist das ersehnte Ziel ihres Fleißes dargestellt - ein wohnlich eingerichtetes Zimmer mit einem Ehegatten, der ihr beim Wolle abwickeln hilft. Spartanischer lebt da ein Junggeselle auf überschaubarer Wohnfläche. Das Schaufenster beschert ihm trotzdem ein wohnliches Ambiente mit Klappbett und anderen platzsparenden Möbeln. Das Florett an der Wand weist auf seine Freizeitbeschäftigung hin.
Der Einfluss der damaligen Bundeshauptstadt auf den Bonner Kaufhof ließ sich auch an den Schaufenstern ablesen: „Es wurden viele ausländische Stadtansichten dargestellt – das war eine Verbeugung vor den vielen diplomatischen Vertretungen in Bonn“, sagt Günther. Zur Schau gestellt wurden dann nicht nur Paris oder London, sondern auch, in welcher Mode sich dort Mann, Frau und Kinder präsentierten. In einer besonderen Form der Heimatverbundenheit wurden aber auch typische Bonner Spezialitäten in der Dekoration aufgegriffen: zum Beispiel das Bröckemännche, das frech sein Gesäß zur anderen Rheinseite reckt.
Schaufensterfiguren: Von üppigen Hüften bis zum Magermodell
Der Kunsthistoriker untersuchte außerdem, wie sich die aus den Schneiderpuppen hervorgegangenen Schaufensterfiguren im Lauf der Jahrzehnte wandelten: In den 60er Jahren verfügten die Exemplare über ordentlich „Hüftgold“, in den 70er Jahren waren dann sehr magere Figuren gefragt – nach dem Vorbild der britischen Mode-Ikone Twiggy. „An den Schaufensterfiguren lässt sich ermessen, welchen Einfluss solche Vorbilder auf junge Menschen haben“, führt Günther aus. Rund 300.000 Schaufensterfiguren präsentierten täglich die Mode der Zeit.
Der Düsseldorfer Kaufhof habe Mitte des vergangenen Jahrhunderts bis zu 170 Dekorateure beschäftigt, berichtet er. Das zeige, wie wichtig damals eine aufwändige Schaufenstergestaltung für die Kundengewinnung war. Viele Personen waren daran beteiligt: Nicht nur Dekorateure, sondern etwa auch Schreiner, Tapezierer, Schneider und Schlosser. Heute sind Schaufenster einfacher gestaltet. „Sie sollen mit simplen Effekten Kunden neugierig machen, ohne die Produkte in einem bestimmten Kontext zu zeigen“, sagt Günther.
Das Thema zu den Schaufenstern und -Figuren ist aus Sicht des frisch gebackenen Masters so ergiebig, dass er es in einer Promotion vertiefen möchte. „Es bietet sich an, den Zeitraum bis zum Jahr 2000 auszudehnen und auch Schaufenster von Kaufhäusern in anderen Städten zu untersuchen“, sagt Günther. Etliche aktive Künstler hätten für Schaufenstergestaltungen gearbeitet. Auch auf diesen Aspekt lohne es sich, näher einzugehen.
Kontakt für die Medien:
Gerhard Günther
Tel. 0176/47912174
E-Mail: gw.guenther@gmx.de
01. Oktober 2014
Schaufenster als Sittengemälde Schaufenster als Sittengemälde
Kunsthistoriker der Uni Bonn untersucht anhand eines Kaufhauses Lebensformen in den 50er und 60er Jahren
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Schaufenster aufwändig wie Bühnenbilder gestaltet. Am Beispiel des Bonner Kaufhofs zeigt der Kunsthistoriker Gerhard Günther von der Universität Bonn, dass Schaufenster nicht nur zum Kauf animieren sollten, sondern auch Spiegel des damaligen Zeitgeists und Geschmacks waren. Anhand von Fotos lässt sich ein Sittengemälde der damaligen Zeit nachzeichnen: zum Beispiel die klassische Rollenverteilung zwischen Mann und Frau und die Aufbruchstimmung nach dem Zweiten Weltkrieg.
Regenschauer in Venedig:
- Schaufenstergestaltung des Bonner Kaufhofs aus den 1950er und 60er Jahren.
© Foto: Galeria Kaufhof GmbH Bonn
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