Es ist immer wieder ein Aha-Effekt: Wenn in einem dämmrigen Raum das Licht angeschaltet wird, setzt plötzlich das Farbsehen ein. „Die Welt wird dadurch nicht nur bunter“, sagt Dr. Wolf M. Harmening, der an der Bonner Universitäts-Augenklinik eine Emmy-Noether-Forschergruppe leitet. „Vielmehr werden durch die Farben erst Details erkennbar, die sich im Lauf der Evolution als überlebenswichtig erwiesen haben.“ Manche Tarnung eines Fressfeindes lässt sich durch Farben erst erkennen. Auch giftige Tiere oder Pflanzen warnen durch Signalfarben. Wie der Mensch mit seiner Netzhaut Farben erkennt, darüber gibt es viel Lehrbuchwissen. Die Erstautoren Dr. Wolf M. Harmening von der Uni-Augenklinik Bonn und Dr. William S. Tuten von der University of California Berkeley wiesen jetzt mit Kollegen der US-Universitäten Washington und Alabama anhand einzelner Farb-Sinneszellen im Auge nach, wie die menschliche Netzhaut den Eindruck von Farbe im Detail berechnet.
Hierzu nutzte der Biologe mit ausgewiesenen Kenntnissen in Elektrotechnik ein Spezialmikroskop, das mithilfe eines Lasers die menschliche Netzhaut berührungslos untersuchen und stimulieren kann. Das Instrument – Adaptive Optics Scanning Laser Ophthalmoskop – ist eine Kombination aus einem Laser und einem sehr hochauflösenden Mikroskop, das sogar einzelne Sinneszellen auf der Netzhaut abbilden kann. Mit diesem Ophthalmoskop untersuchte das Forscherteam nun die Netzhaut von zwei Menschen. Nach der gängigen Theorie lassen sich alle Farbenreize durch Mischen der Primärfarben Rot, Grün und Blau bilden. Während die Stäbchen auf der Netzhaut für das Dämmerungssehen zuständig sind, übernehmen die Zapfen das Farbsehen. Sie sind auf Wellenlängen in der Nähe der Primärfarben spezialisiert.
Kartierung der Netzhaut
Die Forscher kartierten deshalb zunächst das Zapfen-Mosaik auf der Netzhaut der Probanden. Sie steuerten mit dem Laser des Ophthalmoskops einzelne Zapfen an und maßen die Lichtabsorption bestimmter Wellenlängen. Auf diese Weise konnten sie zuordnen, welche der Sinneszellen für Rot, Grün oder Blau zuständig sind. Indem die Forscher die Intensität des jeweiligen Laserlichts herunterregelten, konnten sie bestimmen, ab welcher Reizschwelle bei den Probanden überhaupt eine Lichtwahrnehmung durch die einzelnen Zapfen erfolgte. „Dies ist wichtig, weil wir aus der Empfindlichkeit schließen können, wie sich die Gesamtwahrnehmung durch die Beiträge der einzelnen Zapfen zusammensetzt“, berichtet Harmening.
Überraschenderweise hängt nach den Messungen der Forscher die Lichtwahrnehmung auch von den benachbarten Zellen ab. „Ist eine Sinneszelle, die vor allem für rote Farben empfindlich ist, von lauter Zellen umgeben, die auf Grün spezialisiert sind, dann verhält sie sich auch eher wie ein grüner Zapfen“, fasst Harmening zusammen. Die Berechnung der Farbwahrnehmung sei eine komplexe Angelegenheit, da im Gehirn nicht die Rohdaten der Netzhaut ankommen, sondern die Informationen bereits auf dem Weg dorthin vorverarbeitet werden. Harmening: „Über so genannte Horizontalzellen wird die räumliche Information der einzelnen Zapfen im komplexen Netzwerk der Netzhaut moduliert.“
Dieser Befund stützt bisherige Annahmen zum Farbensehen. „Neu ist, dass diese Ergebnisse nun auch an einzelnen Sinneszellen nachgewiesen werden konnten“, sagt der Wissenschaftler. Bislang konnten solche Untersuchungen im normalen Sehexperiment immer nur durch Stimulation vieler Netzhautzellen gleichzeitig durchgeführt werden. Wichtig sei auch der Nachweis von Nachbarschaftseffekten auf die Farbwahrnehmung. „Wenn die Grundlage des Sehens besser verstanden wird, dann haben wir damit auch einen potenziellen Ansatz für neuartige Diagnosen und Therapien“, sagt Harmening. Das Spezial-Ophthalmoskop biete in der Augenheilkunde den Zugang zu neuen Erkenntnissen.
Publikation: William S. Tuten, Wolf M. Harmening, Ramkumar Sabesan, Austin Roorda, Lawrence C. Sincich: Spatiochromatic interactions between individual cone photoreceptors in the human retina, The Journal of Neuroscience, DOI: 10.1523/JNEUROSCI.0529-17.2017
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