Etwa jeden zweiten Tag stirbt ein Kind unter 14 Jahren in Deutschland durch Gewalt. Zudem wurden im vergangenen Jahr über 4.000 Kinder körperlich misshandelt. Tatsächlich dürfte aber die Dunkelzahl der nicht angezeigten Straftaten viel höher liegen, zumal die Opfer von Misshandlung und Vernachlässigung im eigenen Zuhause nur sehr begrenzt auf sich aufmerksam machen können. „Der erste Verdacht auf Kindesmisshandlung ergibt sich häufig beim Arzt oder in der Klinik“, sagt Geschäftsführender Oberarzt Dr. Ingo Franke, Sprecher und Mitbegründer der lokalen Kinderschutzgruppe am Universitätsklinikum Bonn und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM). „Doch Defizite unter anderem bei der diagnostischen Abgrenzung von Warnhinweisen zu Unfallfolgen bergen das Risiko, dass ein Verdacht nicht eindeutig und rechtzeitig geklärt wird. Den Preis dafür hat oft genug das Kind zu zahlen.“
Den Blick für ein vernachlässigtes Kind bekommen
An diesem Punkt setzt die Kinderschutzleitlinie an. Ziel ist es, allen beteiligten Berufsgruppen wie Ärzten, Lehrern und Sozialarbeitern, die täglich mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, eine größere Sicherheit im Umgang mit den verschiedenen Formen der Misshandlung, sexuellem Missbrauch und Vernachlässigung zu geben. Auf dem Symposium werden einige der derzeit noch vorläufigen Handlungsanweisungen aus den verschiedenen Themenkomplexen vorgestellt, beispielsweise wie man bei einem blauen Fleck vorgeht – jedes dritte misshandelte Kind hat einen blauen Fleck hinter den Ohren, am Hals oder im Nacken. Bei einem Säugling ist jedes Hämatom auffällig. Störungen im Sozialverhalten wie Distanzlosigkeit können ein Hinweis auf eine emotionale Vernachlässigung sein. Laut der Handlungsempfehlungen zur „Partizipation“ soll das Kind beteiligt und angehört werden. „Das ist keine Selbstverständlichkeit, doch bringt eine Beteiligung nur positive Effekte wie ein besseres Selbstwertgefühl“, sagt Franke.
Dabei geht es bei den Handlungsempfehlungen nicht nur darum, eine Kindeswohlgefährdung zu erkennen und zu behandeln, sondern auch um Prävention. So greift der Kinderschutzkreis, an dem Ärzte über Jugendhilfe bis hin zur Polizei beteiligt sind, schon vor der Geburt, beispielsweise wenn eine drogenabhängige Schwangere in eine Notfallambulanz eingeliefert wird.
Leitlinienkoordinator Franke und sein Team sind seit 2014 auf Wunsch der Bundesregierung mit der Erarbeitung der S3-Kinderschutzleitlinie betraut, wobei „S3“ für eine Leitlinie auf höchstem wissenschaftlich-medizinischem Niveau steht. Besonders ist zudem, dass bei dieser Leitlinie nichtmedizinische Akteure – hier aus dem Kinderschutz – eingebunden sind. „Für das Gelingen eines solchen Unterfangens müssen alle mit im Boot sein. Denn nur so können die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Akteuren im Kinderschutz berücksichtigt werden“, sagt Franke. Es sind insgesamt 71 Fachgesellschaften und Organisationen beteiligt.
Von anfangs knapp 50.000 Fachartikeln zu einer Kinderschutzleitlinie
Auf der Grundlage von etwa 500 Kinderschutzfällen formulierte die Bonner Leitlinien-Gruppe aus anfangs 251 Fragen abschließend 33 Themenkomplexe Diese so genannten PICO-Fragen verwendeten sie für eine umfangreiche Literatur-Recherche in großen wissenschaftlichen Datenbanken weltweit. Aus dem Suchergebnis von etwa 49.000 Artikeln kristallisierten sie knapp 5.000 brauchbare Publikationen heraus, wobei zum Schluss jeweils zehn bis 15 Fachartikel die Basis für die Empfehlungen eines Themenkomplexes bildeten.
„Wir schreiben kein Gesetzbuch, sondern ein Handbuch“, sagt Franke. „Wir geben Handlungsempfehlungen und das in verschiedenen Versionen für Ärzte, Jugendhilfe, Pädagogen und die Betroffenen.“ Erscheinungstermin der endgültigen S3-Kinderschutz-Leitlinie ist voraussichtlich Ende 2018. Franke rechnet mit einer weltweiten Aufmerksamkeit: „Sowohl die Art, als auch die Weise dieser Kinderschutzleitlinien suchen – auch international – ihres Gleichen. Dank der Bonner KinderSchutzGruppe, die seit elf Jahren an der Spitze des medizinischen Kinderschutzes in Deutschland steht, ist es uns überhaupt möglich diese herausragende Arbeit zu leisten.“
Hinweis für die Medien:
Medienvertreter sind herzlich eingeladen, sich im Rahmen des Symposiums am Mittwoch, 27. September, selbst ein Bild von der Kinderschutz-Leitlinie zu machen. Für Rückfragen und weitere Informationen steht dort Dr. Ingo Franke und Team um 12:30 Uhr in der Bibliothek der Universitätskinderklinik, Adenauerallee 119, gerne Rede und Antwort. Aus organisatorischen Gründen wird um Anmeldung unter inka.vaeth@uni-bonn.de gebeten.
Das vollständige Programm des wissenschaftlichen Symposiums gibt es unter:
https://www.kinderschutzleitlinie.de/de/bilder/2017_05_22_Flyer-4-ksg-symposium-2017.pdf
Mehr Informationen zu der S3-Kinderschutz-Leitlinie gibt es unter:
https://www.kinderschutzleitlinie.de
Kontakt für die Medien:
Dr. Ingo Franke
Sprecher der Bonner KinderSchutzGruppe / Leitlinienkoordinator
Geschäftsführender Oberarzt der Klinik und Poliklinik für Allgemeine Pädiatrie
Zentrum für Kinderheilkunde am Universitätsklinikum Bonn
Telefon: 0228/287-33030
E-Mail: Bonner.KinderSchutzGruppe@ukbonn.de