Die theoretische Berechnung von Mokekülspektren hat nicht nur in Bonn eine lange Tradition und ist von großer Bedeutung für experimentell arbeitende Chemiker. Ohne theoretische Unterstützung sehen diese normalerweise nach Messung einer Probe nur einen „Wald“ von Messsignalen, die zwar charakteristisch für das vorliegende Molekül sind, jedoch die wichtige Information über die gesuchte dreidimensionale Struktur nur indirekt enthalten. Die „Regeln“, welches Signal an welcher Stelle im Spektrum zu welchem molekularen Strukturelement gehört, werden durch die Theorie der Quantenmechanik vorgegeben. Im Falle der NMR-Spektroskopie, die extrem detaillierte Information selbst über chemisch kleinste (konformative) Strukturmotive enthält, ist dieses quantenmechanische Regelwerk sehr kompliziert und nur schwer theoretisch vollständig und mit hoher Genauigkeit zu beschreiben.
Ein Haupthindernis war bisher die lange Zeitdauer der Messung, die typischerweise im Bereich von Millisekunden liegt. Während dieser Zeit bleiben die im NMR-Experiment vermessenen Kerne der Atome im starken Magnetfeld des Spektrometers nicht an ihrem „Platz“, sondern wechseln ständig ihre Positionen. „Eine allgemeingültige und genaue Beschreibung dieses räumlichen Wechselspiels war bisher nicht bekannt und daher ein grundlegendes Problem für die vollautomatische Berechnung von NMR-Spektren“, sagt Prof. Dr. Stefan Grimme, Leiter des Mulliken Center for Theoretical Chemistry an der Universität Bonn. Dies ist besonders relevant bei strukturell großer Flexibilität, die gerade für pharmakologisch aktive Verbindungen eher typisch und von funktioneller Bedeutung ist.
Das Team um Prof. Grimme und Prof. Dr. Frank Neese vom Max-Planck-Institut für Chemische Energiekonversion in Mülheim/Ruhr hat in aufwändigen Entwicklungs- und Programmierarbeiten erstmalig ein Softwaresystem erstellt, mit dem NMR-Spektren von größeren Molekülen mit 100 bis 200 Atomen vollautomatisch und nichtempirisch berechnet werden können. In der Praxis wird die mehrschrittige Prozedur für viele dreidimensionale Strukturvorschläge durchgeführt. Durch Vergleich der so erhaltenen Spektren mit dem experimentell gemessenen kann die richtige Struktur des untersuchten Moleküls abgeleitet werden.
Da NMR-Spektren fast immer durch Überlagerung (Mittelung) von mehreren Formen des gleichen Moleküls entstehen (Konformere), wird durch die Simulation indirekt auch dieses Verhältnis der beitragenden Konforme ermittelt. „Diese wichtige Information ist durch das Experiment allein kaum zugänglich“, sagt Prof. Grimme. „Ein weiterer Vorteil der neuen Methode ist neben der hohen Genauigkeit die Anwendbarkeit auf praktisch beliebige Moleküle, die zum Beispiel auch Metallatome enthalten können.“ Für solche Fälle sei das „NMR-Regelwerk“, welches zum Beispiel für organische Moleküle noch teilweise in Lehrbüchern behandelt werden kann, sehr kompliziert und die neue quantenmechanische Methode stelle dafür die einzige praktikable Analysemöglichkeit dar.
Ein wesentlicher Baustein für den hier erzielten Durchbruch war die Entwicklung einer extrem schnellen, wenig rechenzeitaufwändigen sogenannten „tight-binding“ Molekülorbitalmethode, mit der für extrem viele der oben erwähnten Kernpositionen in kurzer Zeit die entsprechenden Berechnungen durchgeführt werden können. Dies ermöglicht die routinemäßige Anwendung dieser Berechnungen auf gebräuchlichen Laptop-Computern innerhalb von nur einem Tag oder sogar noch kürzerer Rechenzeit.
Publikation: Fully Automated Quantum-Chemistry-Based Computation of Spin–Spin-Coupled Nuclear Magnetic Resonance Spectra, Angew. Chem. Int. Ed. 56 (46), 2017, 14763-14769. DOI: 10.1002/anie.201708266
Kontakt:
Prof. Dr. Stefan Grimme
Mulliken Center für Theoretische Chemie
Universität Bonn
Tel. 0228/732544
E-Mail: grimme@thch.uni-bonn.de
Chemiker berechnen NMR-Spektren für komplizierte Moleküle Chemiker berechnen NMR-Spektren für komplizierte Moleküle
Moleküle kann man nicht „sehen“. Aber zum Beispiel für die Wirkung von Arzneistoffen ist die Kenntnis ihrer dreidimensionalen Struktur von fundamentaler Bedeutung. Zur Strukturaufklärung verwenden Chemiker daher ein Arsenal an sogenannten Spektroskopien, die mit Strahlung in verschiedenen Bereichen des elektromagnetischen Spektrums arbeiten. Die mit Abstand wichtigste in der Chemie ist die NMR-Spektroskopie, die theoretisch bisher nur unvollständig und für die Praxis nicht brauchbar zu beschreiben war. Wissenschaftlern vom Mulliken Center for Theoretical Chemistry an der Universität Bonn und des Max-Planck-Instituts für Chemische Energiekonversion in Mülheim/Ruhr ist es nun erstmalig gelungen, hoch-aufgelöste NMR-Spektren für relativ komplizierte Moleküle theoretisch zu berechnen. In der international führenden Fachzeitschrift „Angewandte Chemie“ berichten sie über diese neue quantenchemische Methode.