Die Ringvorlesung präsentiert kulturwissenschaftliche und naturwissenschaftliche Forschungen, denen zufolge biologische Geschlechtseigenschaften sozial konstruiert, vorgelebt und perpetuiert werden. Die Ringvorlesung öffnet den Blick für außereuropäische Gesellschaften und ihren Umgang mit der Konstruktion von Geschlecht. Die Beiträge behandeln aus theoretischer und aus forschungsgeschichtlicher Perspektive anhand ausgewählter regionaler und epochaler Beispiele den konstruierten Charakter von Geschlechterrollen und Rollenzuschreibungen. Auf dem Doppelkontinent der beiden Amerikas kollidieren nicht-europäische und europäische Vorstelllungen im Verlauf der Eroberung und Kolonialisierung, was auch zu erzwungenen Umformungen führte, die sich heute anders formieren und präsentieren können.
Die Nordamerika-Spezialistin Dr. Sabine Lang, Roemer- und Pelizaeus-Museum Hildesheim, hat in der Ringvorlesung zum „Dritten Geschlecht“ vorgetragen. Dr. Antje Gunsenheimer, Abteilung Altamerikanistik, hat mit ihr zum Thema „Mannfrauen und Fraumänner“ gesprochen.
Gunsenheimer: „Frau Lang, Sie beschäftigen sich seit Jahren in Ihrer Forschung mit nicht-binären Geschlechtersystemen, also der Vorstellung eines ‚dazwischen‘. Wo findet man solche Gesellschaften und was bedeutet das konkret?“
Lang: Es gibt Gesellschaften beispielsweise in Südostasien oder Polynesien – und traditionell auch im indigenen Nordamerika –, die anerkennen, dass es nicht immer klare Linien zwischen „Frau“ und „Mann“ gibt. Menschen, die weder Frau noch Mann oder eine Kombination aus beidem sind, werden dort gesellschaftlich anerkannt. Sie gelten aufgrund ihrer speziellen Geschlechtszugehörigkeit als etwas Besonderes und bekommen deshalb manchmal spezielle gesellschaftliche oder religiöse Rollen zugewiesen. Anders als binäre Geschlechtersysteme sieht das nicht-binäre System Geschlechter-„Kategorien“ für Menschen vor, die weder Frauen, noch Männer sind.
Entspricht dies unserem Begriffsverständnis von „Transsexualität“?
Mit der Transsexualität in westlichen Gesellschaften ist dies insofern nicht zu vergleichen, als der Übergang nicht in „das“ andere Geschlecht im Kontext eines lediglich binären Systems erfolgt, sondern in eine zusätzliche Geschlechtskategorie. Im Englischen bezeichnet man dies als „gender variability“. Die Grundlage für eine Klassifikation in eine solche Kategorie sind oft Tätigkeitspräferenzen: Kinder interessieren sich für traditionell definierte Tätigkeiten des biologisch „anderen“ Geschlechts. In vielen Kulturen sind Arbeiten im Rahmen der geschlechtlichen Arbeitsteilung ein wichtiger Marker der Geschlechtszugehörigkeit. Interessiert sich also beispielswiese ein bei der Geburt zunächst als Mädchen klassifiziertes Kind dafür, eine als männlich definierte Rolle zu erlernen und einzunehmen, so führt dies in solchen Gesellschaften zur Einordnung in eine neue Geschlechtszugehörigkeit, allerdings eben nicht als Mann, sondern als Mannfrau, eine spezielle Kategorie für Menschen, deren Gechlechterrolle und / oder Geschlechtsidentität sich von ihrem biologischen Geschlecht unterscheidet. Eine Kombination von Weiblichem und Männlichem ist überhaupt häufig ein Charakteristikum dieser Kategorien und der dazugehörigen Rollen, weshalb in den entsprechenden Kulturen bisweilen auch physisch ambivalente, also intersexuelle Menschen in eine solche Geschlechtskategorie eingeordnet werden – ganz ähnlich wie bei dem kürzlich ergangenen Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
Wie viele Kategorien kennt man in anderen nicht-binären Gesellschaftsystemen?
In den meisten Kulturen mit nichtbinären Geschlechtssystemen gibt es drei oder vier Kategorien: Frauen, Männer, Mannfrauen und Fraumänner. Dabei sind Manfrauen biologisch weibliche Menschen in einer vorwiegend oder gänzlich männlichen Rolle; Fraumänner dagegen sind biologisch männliche Menschen, die überwiegend oder gänzlich die kulturell definierte weibliche Rolle einnehmen. In einigen Kulturen gibt es offenbar in bestimmten Kontexten weitere Differenzierungen: So hat die Kulturanthropologin Ina Rösing bei einer Ethnie in Bolivien zehn „symbolische Geschlechter“ ermittelt.
In welchen Kulturen haben Sie konkret Forschungen hierzu durchgeführt?
Feldforschung habe ich auf den Reservaten der Diné und der Shoshone-Bannock durchgeführt, aber auch mit vielen urbanen Native Americans unterschiedlichster Herkunft gesprochen. In meiner vorangegangenen Dissertation ging es um etwa 150 indigene Kulturen Nordamerikas. Dort waren spezielle Geschlechterkategorien vor allem für „Fraumänner“, aber in geringerem Maße auch für „Mannfrauen“ ursprünglich weit verbreitet und sind in der Literatur – von Reisenden, Händlern, Missionaren, Forschungsreisenden und ab dem frühen 20. Jahrhundert Ethnolog/innen– gut dokumentiert.
Wie ging die anglo-amerikanische Kolonialgesellschaft damit um?
Vor allem „Fraumänner“ waren von Anfang an Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt. Viele von ihnen gingen sexuelle Beziehungen zu Männern ein. In ihren entsprechenden Kulturen war dies mit keinerlei Stigma behaftet, aber die Spanier – ab dem 16. Jahrhundert die ersten Kolonisatoren im Süden Nordamerikas – töteten solche angeblichen „Sodomiten“, eine Praxis, die von der Forscherin Deborah Miranda treffend als „Gendercide“ bezeichnet worden ist. Auch seitens der „Indianerbeauftragten“ der U.S.-Regierung gab es in den Reservaten und in den Internaten, die indigene Kinder bis weit in das 20. Jahrhundert hinein besuchen mussten, gewaltsame Versuche, auch die Rollen der Fraumänner und Mannfrauen auszulöschen, die als deviant und pervers angesehen wurden . Diese jahrhundertelange Indoktrinierung durch Vertreter der dominanten Gesellschaft hat dazu geführt, dass die negative Einstellung gegenüber Mannfrauen und Fraumännern inzwischen auch in manchen Reservaten übernommen worden ist, wo heute – oft wider die historischen oder ethnologischen Zeugnisse – geleugnet wird, dass es „solche Leute“ in den betreffenden indigenen Gesellschaften jemals gegeben hat.
Wie sieht die Rechtslage hierzu heute in den USA aus?
Der Oberste Gerichtshof der USA hat im Jahr 2015 gleichgeschlechtliche Ehen überall auf dem Gebiet der Vereinigten Staaten für verfassungsgemäß erklärt. Dadurch können solche Ehen überall in den USA legal geschlossen werden. Selbst die Regierung Trump kann diesen Beschluss nicht einfach per Dekret rückgängig machen. Inwieweit sich die Regierung in entsprechende Gesetzgebungen in den Reservaten einmischen kann, ist fraglich, da die dortigen Stammesregierungen in dieser Hinsicht autonom sind. Das bedeutet übrigens auch, dass die Stammesregierungen an das Urteil des Obersten Gerichtshofes zur Rechtmäßigkeit gleichgeschlechtlicher Ehen nicht gebunden sind. In manchen Reservaten sind gleichgeschlechtliche Eheschließungen gesetzlich zulässig, in anderen nicht. So erließ beispielsweise die Stammesregierung der Navajo (Diné) im Südwesten der USA bereits im Jahre 2005 den „Diné Marriage Act“, der gleichgeschlechtliche Ehen auf dem Navajo-Reservat für unzulässig erklärte – und dies in völligem Widerspruch zur traditionellen, nicht-christlichen Navajo-Kultur, in der beispielsweise Ehen zwischen Fraumännern und Männern als völlig normal galten.
Vielen Dank, Frau Dr. Lang.
Die letzten vier Termine der Ringvorlesung in diesem Wintersemester, jeweils in Hörsaal VIII (Hauptgebäude), stets von 18 bis 20 Uhr:
20.12.2017
Männlichkeit – Performance oder body-reflexive practice?
Vargas Llosas Los cachorros mit Raewyn Connell gelesen
Prof. Dr. Christian Grünnagel, Ruhr-Universität Bochum
10.01.2018
Von Amazonen und Kannibalinnen –
Genderkonstruktionen im kolonialen Raum
Dr. Monika Wehrheim, Universität Bonn
17.01.2017
Geschlecht und Ordnungsprinzipien in Präkolumbischen Gesellschaften
Prof. Dr. Karoline Noack, Universität Bonn
24.01.2017
Die Konstruktion des dritten Geschlechts der Binnizá.
Identifikation, Rollen, Veränderungen
Dr. Stefanie Graul, Universität München
Ansprechpartnerin:
Dr. Antje Gunsenheimer
Akademische Rätin und Geschäftsführerin des ILZ
Universität Bonn, Institut XI, Abt. Altamerikanistik
Oxfordstr. 15, 53111 Bonn
Tel. 0228/734456
e-mail:: Antje.gunsenheimer@uni-bonn.de
Mannfrauen und Fraumänner Mannfrauen und Fraumänner
Das dritte Geschlecht: Interdisziplinäres Lateinamerika-Zentrum schaut auf "Geschlechterkonstruktionen in den Amerikas".
Im November 2017 hat das Bundesverfassungsgericht den Weg frei gemacht für die Eintragung eines Dritten Geschlechts im Behördenregister. Was sich nun neu und gewöhnungsbedürftig anfühlt und anhört, war aber bereits in anderen Kulturen und Gesellschaften schon einmal gelebter Alltag, beispielsweise vor der christlich-europäischen Eroberung Amerikas bei den Navajo (Diné) im Südwesten der Vereinigten Staaten von Amerika. Das Interdisziplinäre Lateinamerika-Zentrums (ILZ) der Universität Bonn hat nun das Thema des Dritten Geschlechts in seiner Ringvorlesung des laufenden Semester unter dem Titel „Geschlechterkonstruktionen in den Amerikas“ aufgenommen.
Fraumann Wewha
- Fraumann Wewha bei den Zuni, Aufnahme ca. 1885,
© National Anthropological Archives, Smithsonian Institution, Photo-Nr. 2235-B, Washington D.C. , USA
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