Unerwartete Todesfälle, Ausgrenzung und Verfolgung, schwere Krankheit, aber auch Verwerfungen durch gesellschaftliche Umbrüche können Menschen aus der Bahn routinemäßiger Alltagsbewältigung werfen. „Objekte können seit Jahrtausenden als Mittel der Krisenbewältigung fungieren“, sagt Prof. Dr. Ludwig Morenz von der Ägyptologie der Universität Bonn. Bestimmten Gegenständen werden dann häufig positive Wirkungen zugeschrieben wie etwa Amuletten in Alt-Ägypten oder Perlenketten in Südamerika, die heilende Kräfte entfalten sollen. Umgekehrt können Dinge aber auch zu einem schlechten Omen werden. Morenz: „Ein Tempel, der im Alten Ägypten dem Krokodilsgott Sobek geweiht ist, zeigt neben den offiziellen Tempelreliefs auch ein privates Graffito mit einem harpunierten Krokodil, weil das Zeichen für das gefährliche Tier bildsymbolisch unschädlich gemacht werden sollte.“
Wie und warum werden bestimmte Objekte mit Symbolwert zur Krisenbewältigung aufgeladen? Wie lässt sich diese symbolische Macht bei Bedarf wieder bändigen und die Gegenstände auf das zurückführen, was sie in ihrer Materialität und Funktionalität zunächst einmal sind – schlicht mehr oder weniger nützliche Dinge? Solche Fragen untersucht das neue Verbundprojekt „Sinnüberschuss und Sinnreduktion von, durch und mit Objekten. Materialität von Kulturtechniken zur Bewältigung von Außergewöhnlichem“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in den nächsten drei Jahren mit fast einer Million Euro gefördert wird. Im Forschungsprojekt werden Beispiele aus unterschiedlichen Kulturen nicht nur gesammelt, sondern auch hinsichtlich der ihnen zu Grunde liegenden Logik und Systematik sowie der individuellen Besonderheiten interpretiert. Dem Spannungsfeld zwischen kulturellem Deutungsangebot und individueller Sinnsetzung gilt dabei das besondere Interesse der Wissenschaftler.
In den Fallstudien wird es unter anderem um altägyptische Heka-Objekte zur Bewältigung des Außergewöhnlichen, seit Jahrtausenden aus Perlen verschiedenster Materialien gefertigte Ketten, Armbänder und andere Objekte (chaquiras) aus Südamerika, Geräte zur »Nervenberuhigung« um 1900 sowie höchst individuell gewählte Dinge in persönlicher Krisenbewältigung unserer Moderne gehen. „So kann kulturübergreifend ein allgemein-menschliches Phänomen besser verstanden werden“, sagt Morenz. Der Wissenschaftler ist der Koordinator des Verbundes, an dem neben der Universität Bonn die Medizinische Hochschule Brandenburg und die Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf beteiligt sind.
Interdisziplinarität und Innovation werden dabei groß geschrieben: Ägyptologie, Altamerikanistik und Ethnologie sowie Medizingeschichte und die für Deutschland neuen „Mad Studies“ werden in engen fachlichen Austausch treten. Die Mad Studies entwickelten sich in Kanada aus der Bewegung Psychiatriebetroffener, deren Erfahrungen und Selbst-Verständnis im Zentrum dieses wissenschaftlichen Ansatzes stehen. Beispielsweise kann „Verrücktheit“ als Reaktion auf erlittene Gewalt – zum Beispiel Missbrauch, Benachteiligung oder Ausschluss – und zugleich als Resultat eines gesellschaftlichen Diskurses verstanden werden, der diese Zusammenhänge verleugnet.
Elektrische Haarbürsten sollten Nerven beruhigen
Bis zum Ersten Weltkrieg galt „Nervosität“ als krankhafte Reaktion der Nerven auf die Hektik des modernen Daseins. Neben Kuraufenthalten und Turnen sollten als „Therapie“ die gestressten Nerven mittels Elektrizität beruhigt werden. Sogar elektrische Haarbürsten sind in Werbeanzeigen und medizinischen Zeitschriften aus dieser Zeit beschrieben. Absichten der Hersteller und Vorstellungen der Nutzer sind dabei zweierlei: Wie Betroffene im Umgang mit individuell bedeutungsvollen Gegenständen Handlungsmacht in extremen psychischen Krisen erlangen, dazu führen Forscher Interviews. Während die älteren Objekte aus Ägypten und Südamerika in Museen wie dem Ägyptischen Museum und der Bonner Altamerika-Sammlung (BASA) der Universität Bonn vorgefunden werden, sollen diejenigen aus der Gegenwart einem neuen Virtuellen Museum elektronisch zugänglich gemacht werden.
Mehrere Ausstellungen sind geplant
Begleitend zum Verbundprojekt sollen die Ergebnisse in mehreren Ausstellungen vorgestellt werden. Einige der untersuchten Stücke, wie etwa Amulette, können in der Dauerausstellung des Ägyptischen Museums der Universität Bonn im Original betrachtet werden. Das Museum bleibt trotz umfangreicher Umbauarbeiten am Ostflügel des Unihauptgebäudes bis auf Weiteres geöffnet. Öffnungszeiten: www.aegyptisches-museum.uni-bonn.de
Kontakt:
Prof. Dr. Ludwig D. Morenz
Universität Bonn
Abteilung für Ägyptologie
Tel.: 0228/735733
E-Mail: lmorenz@uni-bonn.de