Ihrer Ansicht nach gehören Gewalt und Krieg zu den Grundphänomenen der Menschheitsgeschichte?
Vereinzelte bewaffnete Auseinandersetzungen gab es wohl bereits zwischen einstigen Gruppen von Jägern und Sammlern. Aber erst mit der Sesshaftwerdung des Menschen und der Gründung von Siedlungen und Städten mehren sich archäologische Zeugnisse für organisierte Konflikte, die mitunter sogar zur kompletten Auslöschung feindlicher Gruppen führten. Krieg ist also ein kulturelles Phänomen, das ins-besondere mit der Entstehung komplexerer Gesellschaften auftritt.
Weshalb konzentrieren Sie sich auf Kriegsgewalt in der griechischen Antike?
Obwohl es mittlerweile umfangreiche Forschung zur Gewalt in der Antike gibt, liegt der Fokus meist auf der Dar-stellung und der Betrachtung von Gewalt innerhalb von Gesellschaften. Paradoxerweise wird gerade im Bereich der Kriegsführung die Gewaltthematik ausgeklammert – vielleicht, weil Krieg und Gewalt als selbstverständlich und zusammengehörig empfunden werden. Mein Ansinnen ist es, die kulturellen Bedingungen und Folgen von Gewalt im Krieg zu betrachten und zu verstehen, wie die damaligen Gesellschaften ihre eigene Kriegsgewalt eingeordnet haben.
Sie schließen von kriegerischer Gewalt auf gesellschaftliche Normen. Könnten Sie das an einem Beispiel erläutern?
In der Zeit von 800 bis 300 vor Christus bekriegten sich die griechischen Stadtstaaten vehement untereinander. Griechen kämpften gegen Griechen. Die Auseinandersetzungen waren klein-teilig und unterlagen einer unglaublichen Dynamik: Freund-Feind-Beziehungen unter Stadtstaaten konnten sich dabei schnell ändern. Zu diesem äußeren Aspekt kommt eine besondere innere Konstitution der Stadtstaaten. Als weltgeschichtliche Ausnahme kam im alten Griechenland und insbesondere in Athen erstmals die Vorstellung von der Gleichheit aller männlichen Bürger auf. Menschliche Beziehungen wurden auf eine rechtliche Basis gestellt. Prozesse wurden geführt, um Recht durchzusetzen. Auch das Rachedenken, das für die griechische Kultur typisch ist, wurde beispielsweise durch den Staat eingehegt und kanalisiert: Die Beziehungen der Bürger untereinander sollten weitgehend frei von Gewalt gehalten werden. Die damit gesetzten Normen wiederum wirkten auf das Verhalten im Krieg. Hinrichtungen in Athen konnten zwar sehr grausam und entehrend sein, aber sie erfolgten ohne Blutvergießen – etwa durch blutlose Kreuzigungen. Dabei wurden die Delinquenten an ein Brett angebunden und gewartet, bis der Tod eintrat - eine Strafe, die auch im Krieg Anwendung fand.
Was ist der wesentliche Unterschied zwischen vormoderner und moderner Kriegsgewalt?
Der Hauptunterschied ist, dass in der griechischen Antike Kriegsgewalt buchstäblich Handarbeit der einzelnen Krieger war. Krieg und Gewalt waren feste Bestandteile des damaligen Lebens. Es gab eine durchweg starke Mobilisierung, die Männer wurden von Kindheit an mithilfe von Ritualen und Symboliken darauf vorbereitet. Jeder musste damit rechnen, später in den Krieg zu ziehen, Feinde zu töten und getötet zu werden. Mit der Erfindung automatisierter Waffen in der Moderne und deren stetiger Weiterentwicklung änderte sich dies. Man kann sagen, dass sich in der westlichen Welt mit dem ersten Weltkrieg die Einstellung zum Krieg verändert hat.
Seit dem Ersten Weltkrieg hat sich die Gewalt nochmals verschoben. Inzwischen feuern Drohnen Raketen ab, indem weit entfernt ein Mensch auf einen Knopf drückt und am Bild-schirm das Geschehen verfolgt. Welche gesellschaftlichen Normen stecken hier dahinter?
Mit der weiter voranschreitenden Technisierung wird die psychologische Distanz zum Töten zunehmend vergrößert. Der Drohnenkrieg verändert das soldatische Ethos fundamental und macht traditionelle Vorstellungen von Mut und Tapferkeit im Drohnenkrieg obsolet. Zudem wirft die Automatisierung neue Fragen nach der Legitimation des Tötens im Krieg auf, die bis heute unbeantwortet sind.
Durch die Förderung im Stipendienprogram der Daimler und Benz Stiftung erweitern Sie Ihre Forschung auf andere Epochen und Kulturen.
Wir bleiben in der Vormoderne, nehmen aber weitere Gesellschaften in den Fokus: die römische Republik, das feudale Japan, das spätmittelalterliche Zentralasien, das Inkareich und das mittelalterliche Mitteleuropa. Ziel ist es, auch in diesen Kulturen die Wechselwirkungen zwischen Kriegsgewalt und Gesellschaft zu verstehen und die Erkennt-nisse dann miteinander zu vergleichen: Wie blickten die Menschen auf legitime und illegitime Gewalt? Welche Gewalt war im Krieg erlaubt, welche innerhalb der Gesellschaften? Diese Fragen wollen wir bei einer internationalen Konferenz vertiefen, die wir für den September 2022 planen.
Gewalt und Kultur gehören in menschlichen Gesellschaften also zusammen?
Auf jeden Fall. Daher ist es wichtig, die emotionalen und psychischen Mechanismen eskalierender Gewaltsituationen und -exzesse zu ergründen und die Phänomene in ihrem jeweiligen kulturellen Kontext zu verstehen. Heutige westliche Gesellschaften verstehen sich als gewaltfrei und thematisieren daher vor allem Gewalt in den zwischenmenschlichen Beziehungen und Institutionen, zum Beispiel die physische Gewalt in Familien während der Covid-19-Pan-demie. Aber wir sehen auch Bilder der Bürgerkriege in Syrien, Libyen oder anderen Ländern. Im Gegensatz zur Antike werden im heutigen Europa jedoch nicht die politischen Sieger in den Blick genommen, sondern vor allem die Opfer von Kriegsgewalt. Allerdings sehen wir Kriegsgewalt als etwas Fremdes an, das unser Leben nicht tangiert. Gleich-zeitig findet bei uns durch die mediale Omnipräsenz von Bildern leidender Menschen aus entfernten Ländern eine gewisse Abstumpfung statt.