Wie muss man sich das religiöse und kulturelle Zusammenleben im mittelalterlichen Spanien vorstellen?
Das Spannende ist die Multikulturalität: Die muslimische Kultur von al-Andalus findet sich im ständigen Austausch mit den christlichen Königreichen in Nordspanien, darunter Asturien, Kastilien, León, Aragón. Von 711 bis zum Fall Granadas 1492 wechselten sich kriegerische und friedliche Phasen ab. Zwei Begriffe prägen diese fast 800 Jahre: Reconquista, die Rückeroberung der Iberischen Halbinsel durch die Christen, und Convivencia, das friedliche Zusammenleben von Christen, Juden und Muslimen. Wobei hier „Toleranz“ etwa auch Sondersteuern für die jeweiligen Minderheiten bedeuten konnte.
Wie passt Alfons X. von Kastilien in diese Zeit?
Alfons X. wurde am 23. November 1221 in Toledo geboren und hatte eine kulturelle Vermittlerrolle inne. Vielen ist er schon in historischen Romanen begegnet, wo er oft als Vorläufer der Moderne dargestellt wird, wie etwa auch bei den offiziellen Feierlichkeiten aus Anlass des 800. Jubiläums in Toledo. Seine herausragende Bedeutung für den Kulturtransfer aus der arabischen in die lateinische Welt zeigt sich in der Förderung von Kunst, Kultur und Wissenschaft am alfonsinischen Hof. Er ließ Abhandlungen über das Schachspiel und die Jagd, Traktate zu Mathematik und Landwirtschaft sowie zur Astronomie und Astrologie aus dem Arabischen übersetzen und gab die sogenannte Alfonsinischen Tafeln in Auftrag, auf denen man bis in die Neuzeit die Stellung von Sonne, Mond und Planeten, Äquinoktium und Sonnenwende ablesen konnte, was von besonderer Bedeutung für die Terminierung liturgischer Feste war. Darüber hinaus dichtete bzw. beauftragte er knapp 400 Lieder zu Ehren der Gottesmutter Maria, die eine besondere Rolle für die Legitimation seiner Herrschaft spielte.
Das klingt ganz ähnlich wie Staufer-Kaiser Friedrich II., der sich ebenfalls mit Gesetzen und Künsten beschäftigte. Gibt es da Parallelen?
Ja, meines Erachtens ist der Ver-gleich sehr passend, und zwar über die dynastische Verbindung hinaus – Beatrix von Schwaben und Friedrich II. waren beide Enkel des Staufers Friedrich Barbarossa – auch wenn ein halbes Jahr-hundert Abstand zwischen den beiden Herrschern liegt. Gerade hinsichtlich der juristischen Maßnahmen und des multi-kulturellen, christlich-muslimischen Kontextes kann man Alfons X. mit Friedrich II. und seiner Herrschaft auf Sizilien vergleichen.
Bereits als Kronprinz gab Alfons etwa die Übersetzung einer arabischen Fabelsammlung in Auftrag, die ebenso verschachtelt aufgebaut ist wie die Erzählungen aus 1001 Nacht: Es handelt sich um Kalila und Dimna, ein Werk, das bis heute als Kinderbuch in der islamischen Welt beliebt ist, – mit Beispielgeschichten um den Löwenkönig, den intriganten Schakal und den aufrichtigen Büffel. Es diente als Fürstenspiegel, der mit seinen didaktischen Komponenten den idealen Herrscher beschreiben und Thronfolger belehren sollte; in dieser Funktion wirkte es bis weit in die Frühe Neuzeit. Und dann ist da natürlich, wegweisend für die Aspekte Machtausübung und Herrschaft, sein Gesetzeskodex, die Siete Partidas.
Welche Rolle spielen die Siete Partidas für Kastilien und Europa?
In ganz Europa erleben wir im 13. Jahrhundert einen Schub an juristischen Normierungen, etwa die Magna Carta, den Sachsenspiegel, oder die Konstitutionen von Melfi, die Kaiser Friedrich II. erlassen hat. In Kastilien gab König Alfons X. die Kompilation der Siete Partidas in Auftrag, die auf westgotischen Traditionen, iberischem Gewohnheitsrecht und – dank den frühen Juristen der Universität Bologna – akademisch kodifiziertem Römischem Recht basieren. Der Rechtskodex besteht, wie der Name bereits andeutet, aus sieben Teilen. Er trug ganz entscheidend zur Modellierung und Kodifizierung monarchischer Herrschaft bei und gilt als einer der wichtigsten Beiträge zur Rechtsgeschichte, der bis in die Verfassungen der lateinamerikanischen Staaten nach der Unabhängigkeit von Spanien zu Beginn des 19. Jahrhunderts seine Spuren hinterlassen hat. Die Kompilation regelte die Grundlagen der kastilischen Monarchie – von der göttlichen Legitimation des Königs bis zum Alltag des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Das war auch einer der Schwerpunkte unserer Forschung, die sich in unserem neuen Band „Alfonso the Wise and the Juridical Conceptualization of Monarchy in the ‘Siete Partidas’“ niederschlägt. Dort analysieren wir detailliert juristische, gesellschaftspolitische, kunsthistorische und transkulturelle Aspekte der Vorstellung von Macht und Herrschaft in der kastilischen Monarchie zur Zeit Alfons´ des Weisen.
Wo Licht ist, ist meist auch Schatten: Wird König Alfons X. auch kritisch gesehen?
Ja, durchaus. Das liegt insbesondere an seinen reichspolitischen Ambitionen. Alfons X. war Sohn Beatrix von Schwaben und Enkel des deutschen Königs Philipp von Schwaben. 1256 erhob er Anspruch auf die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches, wurde im Interregnum von 1257 bis 1273 Gegenkönig von Richard von Cornwall. Doch das Projekt scheiterte schließlich, mit fatalen Folgen für ihn und Kastilien.
Denn er investierte sehr viel Zeit und Geld in das Projekt, um einflussreiche Akteure im Reich auf seine Seite zu bringen. Dafür erhöhte er in seinem Königreich die Steuern, verschlechterte die Münzen und vernachlässigte verschiedene soziale Probleme und Macht-fragen, was zu Aufständen des Hochadels sowie der Städte führte. Außerdem versäumte er es, nach dem plötzlichen Tod seines Erstgeborenen Fernando de la Cerda (1255–1275) seine Nachfolge verbindlich zu regeln, so dass ein Konflikt entbrannte, aus dem sein jüngerer Sohn Sancho (1258–1295) als Sieger hervorging. König Alfons starb im Jahr 1284 in Sevilla.
Einerseits ist Alfons X. eine kulturelle Lichtgestalt. Andererseits hat er wegen seiner politischen Illusion, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches zu werden und Kastilien als europäische Großmacht zu etablieren, seine tatsächliche Macht eingebüßt.